wie es schien, vor kurzem von Dryander beschriebenes Blatt. Er nahm es auf und las:
Vor dem Schloß in den Bäumen es rauschend weht,
Unter den Fenstern ein Spielmann geht, Mit irren Tönen verlockend den Sinn -- Der Spielmann aber ich selber bin.
Vorüber jag' ich an manchem Schloß,
Die Locken zerwühlet, verwildert das Roß, Du frommes Kindlein im stillen Haus, Schau' nicht nach mir zum Fenster hinaus!
Von Lüsten und Reue zerrissen die Brust,
Wie rasend in verzweifelter Lust, Brech' ich im Fluge mir Blumen zum Strauß, Wird doch kein fröhlicher Kranz nicht daraus!
Wird aus dem Schrei doch nimmer Gesang,
Herz, o mein Herz, bist ein irrer Klang, Den der Sturm in alle Lüfte verweht -- Leb't wohl, und fragt nicht, wohin es geht!
Sollte man nicht wirklich denken, er sey durch und durch verzweifelt, sagte Manfred, indem er das Blatt mitleidig lächelnd weglegte, und ich wette, da hat er in der Zerstreuung alles wieder rein vergessen, was wir gestern verabredet. -- Und als er hinaus¬ blickte, sah er draußen im Morgenblitzen das Wägel¬ chen des Dichters, über dem ein durchlöcherter Son¬ nenschirm aufgespannt war, wie ein Schattenspiel zwi¬ schen den grünen Bäumen dahinschwanken.
wie es ſchien, vor kurzem von Dryander beſchriebenes Blatt. Er nahm es auf und las:
Vor dem Schloß in den Baͤumen es rauſchend weht,
Unter den Fenſtern ein Spielmann geht, Mit irren Toͤnen verlockend den Sinn — Der Spielmann aber ich ſelber bin.
Voruͤber jag' ich an manchem Schloß,
Die Locken zerwuͤhlet, verwildert das Roß, Du frommes Kindlein im ſtillen Haus, Schau' nicht nach mir zum Fenſter hinaus!
Von Luͤſten und Reue zerriſſen die Bruſt,
Wie raſend in verzweifelter Luſt, Brech' ich im Fluge mir Blumen zum Strauß, Wird doch kein froͤhlicher Kranz nicht daraus!
Wird aus dem Schrei doch nimmer Geſang,
Herz, o mein Herz, biſt ein irrer Klang, Den der Sturm in alle Luͤfte verweht — Leb't wohl, und fragt nicht, wohin es geht!
Sollte man nicht wirklich denken, er ſey durch und durch verzweifelt, ſagte Manfred, indem er das Blatt mitleidig laͤchelnd weglegte, und ich wette, da hat er in der Zerſtreuung alles wieder rein vergeſſen, was wir geſtern verabredet. — Und als er hinaus¬ blickte, ſah er draußen im Morgenblitzen das Waͤgel¬ chen des Dichters, uͤber dem ein durchloͤcherter Son¬ nenſchirm aufgeſpannt war, wie ein Schattenſpiel zwi¬ ſchen den gruͤnen Baͤumen dahinſchwanken.
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wie es ſchien, vor kurzem von Dryander beſchriebenes
Blatt. Er nahm es auf und las:
Vor dem Schloß in den Baͤumen es rauſchend weht,
Unter den Fenſtern ein Spielmann geht,
Mit irren Toͤnen verlockend den Sinn —
Der Spielmann aber ich ſelber bin.
Voruͤber jag' ich an manchem Schloß,
Die Locken zerwuͤhlet, verwildert das Roß,
Du frommes Kindlein im ſtillen Haus,
Schau' nicht nach mir zum Fenſter hinaus!
Von Luͤſten und Reue zerriſſen die Bruſt,
Wie raſend in verzweifelter Luſt,
Brech' ich im Fluge mir Blumen zum Strauß,
Wird doch kein froͤhlicher Kranz nicht daraus!
Wird aus dem Schrei doch nimmer Geſang,
Herz, o mein Herz, biſt ein irrer Klang,
Den der Sturm in alle Luͤfte verweht —
Leb't wohl, und fragt nicht, wohin es geht!
Sollte man nicht wirklich denken, er ſey durch
und durch verzweifelt, ſagte Manfred, indem er das
Blatt mitleidig laͤchelnd weglegte, und ich wette, da
hat er in der Zerſtreuung alles wieder rein vergeſſen,
was wir geſtern verabredet. — Und als er hinaus¬
blickte, ſah er draußen im Morgenblitzen das Waͤgel¬
chen des Dichters, uͤber dem ein durchloͤcherter Son¬
nenſchirm aufgeſpannt war, wie ein Schattenſpiel zwi¬
ſchen den gruͤnen Baͤumen dahinſchwanken.
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Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/281>, abgerufen am 16.02.2025.
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