Gesang zu verlieren schien. Auf einem sanftgrünen Hügel über dem Strome saß Angelina, das italiä¬ nische Mädchen, und zog mit ihrem kleinen, rosi¬ gen Finger zu meinem Erstaunen einen Regenbogen über den blauen Himmel. Unterdeß sah ich, daß sich das Gebirge anfieng, wundersam zu regen; die Bäu¬ me streckten lange Arme aus, die sich wie Schlan¬ gen ineinander schlungen, die Felsen dehnten sich zu ungeheuren Drachengestalten aus, andre zogen Gesichter mit langen Nasen, die ganze wunderschö¬ ne Gegend überzog und verdeckte dabey ein qual¬ mender Nebel. Zwischen den Felsenspalten streckte Rudolph den Kopf hervor, der auf einmal viel äl¬ ter und selber wie von Stein aussah, und lachte übermässig mit seltsamen Geberden. Alles verwirr¬ te sich zulezt und ich sah nur die entfliehende Ange¬ lina mit ängstlich zurückgewandtem Gesicht und weißem, flatterndem Gewande, wie ein Bild über einen grauen Vorhang, vorüberschweben. Eine große Furcht überfiel mich da jedesmal und ich wachte vor Schreck und Entsezen auf.
Diese Träume, die sich, wie gesagt, mehreremal wiederholten, machten einen so tiefen Eindruck auf mein kindisches Gemüth, daß ich nun meinen Bru¬ der oft heimlich mit einer Art von Furcht betrachte¬ te, auch die seltsame Gestaltung des Gebirges nie wieder vergaß.
Eines Abends, da ich eben im Garten herum¬ gieng und zusah, wie es in der Ferne an den Ber¬ gen gewitterte, trat auf einmal an dem Ende eines
Geſang zu verlieren ſchien. Auf einem ſanftgrünen Hügel über dem Strome ſaß Angelina, das italiä¬ niſche Mädchen, und zog mit ihrem kleinen, roſi¬ gen Finger zu meinem Erſtaunen einen Regenbogen über den blauen Himmel. Unterdeß ſah ich, daß ſich das Gebirge anfieng, wunderſam zu regen; die Bäu¬ me ſtreckten lange Arme aus, die ſich wie Schlan¬ gen ineinander ſchlungen, die Felſen dehnten ſich zu ungeheuren Drachengeſtalten aus, andre zogen Geſichter mit langen Naſen, die ganze wunderſchö¬ ne Gegend überzog und verdeckte dabey ein qual¬ mender Nebel. Zwiſchen den Felſenſpalten ſtreckte Rudolph den Kopf hervor, der auf einmal viel äl¬ ter und ſelber wie von Stein ausſah, und lachte übermäſſig mit ſeltſamen Geberden. Alles verwirr¬ te ſich zulezt und ich ſah nur die entfliehende Ange¬ lina mit ängſtlich zurückgewandtem Geſicht und weißem, flatterndem Gewande, wie ein Bild über einen grauen Vorhang, vorüberſchweben. Eine große Furcht überfiel mich da jedesmal und ich wachte vor Schreck und Entſezen auf.
Dieſe Träume, die ſich, wie geſagt, mehreremal wiederholten, machten einen ſo tiefen Eindruck auf mein kindiſches Gemüth, daß ich nun meinen Bru¬ der oft heimlich mit einer Art von Furcht betrachte¬ te, auch die ſeltſame Geſtaltung des Gebirges nie wieder vergaß.
Eines Abends, da ich eben im Garten herum¬ gieng und zuſah, wie es in der Ferne an den Ber¬ gen gewitterte, trat auf einmal an dem Ende eines
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0080"n="74"/>
Geſang zu verlieren ſchien. Auf einem ſanftgrünen<lb/>
Hügel über dem Strome ſaß Angelina, das italiä¬<lb/>
niſche Mädchen, und zog mit ihrem kleinen, roſi¬<lb/>
gen Finger zu meinem Erſtaunen einen Regenbogen<lb/>
über den blauen Himmel. Unterdeß ſah ich, daß ſich<lb/>
das Gebirge anfieng, wunderſam zu regen; die Bäu¬<lb/>
me ſtreckten lange Arme aus, die ſich wie Schlan¬<lb/>
gen ineinander ſchlungen, die Felſen dehnten ſich zu<lb/>
ungeheuren Drachengeſtalten aus, andre zogen<lb/>
Geſichter mit langen Naſen, die ganze wunderſchö¬<lb/>
ne Gegend überzog und verdeckte dabey ein qual¬<lb/>
mender Nebel. Zwiſchen den Felſenſpalten ſtreckte<lb/>
Rudolph den Kopf hervor, der auf einmal viel äl¬<lb/>
ter und ſelber wie von Stein ausſah, und lachte<lb/>
übermäſſig mit ſeltſamen Geberden. Alles verwirr¬<lb/>
te ſich zulezt und ich ſah nur die entfliehende Ange¬<lb/>
lina mit ängſtlich zurückgewandtem Geſicht und<lb/>
weißem, flatterndem Gewande, wie ein Bild über<lb/>
einen grauen Vorhang, vorüberſchweben. Eine<lb/>
große Furcht überfiel mich da jedesmal und ich<lb/>
wachte vor Schreck und Entſezen auf.</p><lb/><p>Dieſe Träume, die ſich, wie geſagt, mehreremal<lb/>
wiederholten, machten einen ſo tiefen Eindruck auf<lb/>
mein kindiſches Gemüth, daß ich nun meinen Bru¬<lb/>
der oft heimlich mit einer Art von Furcht betrachte¬<lb/>
te, auch die ſeltſame Geſtaltung des Gebirges nie<lb/>
wieder vergaß.</p><lb/><p>Eines Abends, da ich eben im Garten herum¬<lb/>
gieng und zuſah, wie es in der Ferne an den Ber¬<lb/>
gen gewitterte, trat auf einmal an dem Ende eines<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[74/0080]
Geſang zu verlieren ſchien. Auf einem ſanftgrünen
Hügel über dem Strome ſaß Angelina, das italiä¬
niſche Mädchen, und zog mit ihrem kleinen, roſi¬
gen Finger zu meinem Erſtaunen einen Regenbogen
über den blauen Himmel. Unterdeß ſah ich, daß ſich
das Gebirge anfieng, wunderſam zu regen; die Bäu¬
me ſtreckten lange Arme aus, die ſich wie Schlan¬
gen ineinander ſchlungen, die Felſen dehnten ſich zu
ungeheuren Drachengeſtalten aus, andre zogen
Geſichter mit langen Naſen, die ganze wunderſchö¬
ne Gegend überzog und verdeckte dabey ein qual¬
mender Nebel. Zwiſchen den Felſenſpalten ſtreckte
Rudolph den Kopf hervor, der auf einmal viel äl¬
ter und ſelber wie von Stein ausſah, und lachte
übermäſſig mit ſeltſamen Geberden. Alles verwirr¬
te ſich zulezt und ich ſah nur die entfliehende Ange¬
lina mit ängſtlich zurückgewandtem Geſicht und
weißem, flatterndem Gewande, wie ein Bild über
einen grauen Vorhang, vorüberſchweben. Eine
große Furcht überfiel mich da jedesmal und ich
wachte vor Schreck und Entſezen auf.
Dieſe Träume, die ſich, wie geſagt, mehreremal
wiederholten, machten einen ſo tiefen Eindruck auf
mein kindiſches Gemüth, daß ich nun meinen Bru¬
der oft heimlich mit einer Art von Furcht betrachte¬
te, auch die ſeltſame Geſtaltung des Gebirges nie
wieder vergaß.
Eines Abends, da ich eben im Garten herum¬
gieng und zuſah, wie es in der Ferne an den Ber¬
gen gewitterte, trat auf einmal an dem Ende eines
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/80>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.