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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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len frisch zugetrunken hatte. Dort fand er den
Nahmen Rosa wieder, den er an jenem schwülen
Nachmittage mit seinem Ringe in die Fensterscheibe
gezeichnet. Er hielt beyde Hände vor die Augen,
so tief überfiel ihn die Gewalt dieser Erinnerung.
Die treuen Züge blitzten noch frisch in der Sonne,
aber die Züge jenes wunderschönen Bildes, das er
damals in der Seele hatte, waren unterdeß im Le¬
ben verworren und verlohren für immer. --

Er lehnte sich zum Fenster hinaus und übersah
die schöne, noch gar wohl bekannte Gegend und
sein ganzer damaliger Zustand wurde ihm dabey so
deutlich, wie wenn man ein langvergessenes, frühes
Gedicht nach vielen Jahren wiederliest, wo alles
vergangen ist, was einen zu dem Liede verführt.
Wie anders war seitdem alles in ihm geworden!
Damals segelten seine Gedanken und Wünsche mit
den Wolken ins Blaue über das Gebirge fort, hin¬
ter dem ihm das Leben mit seinen Reise-Wundern
wie ein schönes, überschwenglichreiches Geheimniß
lag. Jetzt stand er an demselben Orte, wo er be¬
gonnen, wie nach einem mühsam beschriebenen Zir¬
kel, frühzeitig an dem anderen, ernsteren und stille¬
ren Ende seiner Reise und hatte keine Sehnsucht
mehr nach dem Plunder hinter den Bergen und
weiter. Die Poesie, seine damalige süße Reisege¬
fährtin, genügte ihm nicht mehr, alle seine ernste¬
sten, herzlichsten Pläne waren an dem Neide seiner
Zeit gescheitert, seine Mädchenliebe mußte, ohne
daß er es selbst bemerkte, einer höheren Liebe wei¬

len friſch zugetrunken hatte. Dort fand er den
Nahmen Roſa wieder, den er an jenem ſchwülen
Nachmittage mit ſeinem Ringe in die Fenſterſcheibe
gezeichnet. Er hielt beyde Hände vor die Augen,
ſo tief überfiel ihn die Gewalt dieſer Erinnerung.
Die treuen Züge blitzten noch friſch in der Sonne,
aber die Züge jenes wunderſchönen Bildes, das er
damals in der Seele hatte, waren unterdeß im Le¬
ben verworren und verlohren für immer. —

Er lehnte ſich zum Fenſter hinaus und überſah
die ſchöne, noch gar wohl bekannte Gegend und
ſein ganzer damaliger Zuſtand wurde ihm dabey ſo
deutlich, wie wenn man ein langvergeſſenes, frühes
Gedicht nach vielen Jahren wiederliest, wo alles
vergangen iſt, was einen zu dem Liede verführt.
Wie anders war ſeitdem alles in ihm geworden!
Damals ſegelten ſeine Gedanken und Wünſche mit
den Wolken ins Blaue über das Gebirge fort, hin¬
ter dem ihm das Leben mit ſeinen Reiſe-Wundern
wie ein ſchönes, überſchwenglichreiches Geheimniß
lag. Jetzt ſtand er an demſelben Orte, wo er be¬
gonnen, wie nach einem mühſam beſchriebenen Zir¬
kel, frühzeitig an dem anderen, ernſteren und ſtille¬
ren Ende ſeiner Reiſe und hatte keine Sehnſucht
mehr nach dem Plunder hinter den Bergen und
weiter. Die Poeſie, ſeine damalige ſüße Reiſege¬
fährtin, genügte ihm nicht mehr, alle ſeine ernſte¬
ſten, herzlichſten Pläne waren an dem Neide ſeiner
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[354/0360] len friſch zugetrunken hatte. Dort fand er den Nahmen Roſa wieder, den er an jenem ſchwülen Nachmittage mit ſeinem Ringe in die Fenſterſcheibe gezeichnet. Er hielt beyde Hände vor die Augen, ſo tief überfiel ihn die Gewalt dieſer Erinnerung. Die treuen Züge blitzten noch friſch in der Sonne, aber die Züge jenes wunderſchönen Bildes, das er damals in der Seele hatte, waren unterdeß im Le¬ ben verworren und verlohren für immer. — Er lehnte ſich zum Fenſter hinaus und überſah die ſchöne, noch gar wohl bekannte Gegend und ſein ganzer damaliger Zuſtand wurde ihm dabey ſo deutlich, wie wenn man ein langvergeſſenes, frühes Gedicht nach vielen Jahren wiederliest, wo alles vergangen iſt, was einen zu dem Liede verführt. Wie anders war ſeitdem alles in ihm geworden! Damals ſegelten ſeine Gedanken und Wünſche mit den Wolken ins Blaue über das Gebirge fort, hin¬ ter dem ihm das Leben mit ſeinen Reiſe-Wundern wie ein ſchönes, überſchwenglichreiches Geheimniß lag. Jetzt ſtand er an demſelben Orte, wo er be¬ gonnen, wie nach einem mühſam beſchriebenen Zir¬ kel, frühzeitig an dem anderen, ernſteren und ſtille¬ ren Ende ſeiner Reiſe und hatte keine Sehnſucht mehr nach dem Plunder hinter den Bergen und weiter. Die Poeſie, ſeine damalige ſüße Reiſege¬ fährtin, genügte ihm nicht mehr, alle ſeine ernſte¬ ſten, herzlichſten Pläne waren an dem Neide ſeiner Zeit geſcheitert, ſeine Mädchenliebe mußte, ohne daß er es ſelbſt bemerkte, einer höheren Liebe wei¬

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/360>, abgerufen am 24.11.2024.