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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Ein alter frommer Geistlicher vom Dorfe be¬
suchte die schöne Büßerin fleissig. Sie erstaunte,
wie der Mann so eigentlich ohne alle Bildung und
doch so hochgebildet war. Er sprach ihr oft Stun¬
denlang von den tiefsinnigsten Wahrheiten seiner
Religion und war dabey immer so herzlich heiter,
ja, oft voll lustiger Schwänke, während Sie dabey
jedesmal in eine peinliche, gedankenvolle Traurig¬
keit versank. Er fand manchmal geistliche Lieder und
Legenden bey ihr, die sie so eben gedichtet. Nichts
glich dann seiner Freude darüber; er nannte sie
sein liebes Lämmchen, las die Lieder viermal sehr
aufmerksam und legte sie in sein Gebethbuch. Mein
Gott! sagte da Romana, in Gedanken verlohren,
oft zu sich selbst, wie ist der gute Mann doch un¬
schuldig! --

In dieser Zeit schrieb sie, weniger aus Freund¬
schaft als aus Laune und Bedürfniß sich auszu¬
sprechen, mehrere Briefe an die Schmachtende in
der Residenz, im tiefsten Jammer ihrer Seele ver¬
faßt. Sie erstaunte über sich selbst, wie moralisch
sie zu schreiben wußte, wie ganz klar ihr ihr Zu¬
stand vor Augen lag, und sie es doch nicht ändern
konnte. Die Schmachtende konnte sich nicht enthal¬
ten, diese interessanten Briefe ihrem Abendzirkel
mitzutheilen. Man nahm dieselben dort für Grund¬
risse zu einem Romane, und bewunderte die feine
Anlage und den Geist der Gräfin.

Romana hielt es endlich nicht länger aus, sie
mußte ihren hohen Feind und Freund, den Grafen

Ein alter frommer Geiſtlicher vom Dorfe be¬
ſuchte die ſchöne Büßerin fleiſſig. Sie erſtaunte,
wie der Mann ſo eigentlich ohne alle Bildung und
doch ſo hochgebildet war. Er ſprach ihr oft Stun¬
denlang von den tiefſinnigſten Wahrheiten ſeiner
Religion und war dabey immer ſo herzlich heiter,
ja, oft voll luſtiger Schwänke, während Sie dabey
jedesmal in eine peinliche, gedankenvolle Traurig¬
keit verſank. Er fand manchmal geiſtliche Lieder und
Legenden bey ihr, die ſie ſo eben gedichtet. Nichts
glich dann ſeiner Freude darüber; er nannte ſie
ſein liebes Lämmchen, las die Lieder viermal ſehr
aufmerkſam und legte ſie in ſein Gebethbuch. Mein
Gott! ſagte da Romana, in Gedanken verlohren,
oft zu ſich ſelbſt, wie iſt der gute Mann doch un¬
ſchuldig! —

In dieſer Zeit ſchrieb ſie, weniger aus Freund¬
ſchaft als aus Laune und Bedürfniß ſich auszu¬
ſprechen, mehrere Briefe an die Schmachtende in
der Reſidenz, im tiefſten Jammer ihrer Seele ver¬
faßt. Sie erſtaunte über ſich ſelbſt, wie moraliſch
ſie zu ſchreiben wußte, wie ganz klar ihr ihr Zu¬
ſtand vor Augen lag, und ſie es doch nicht ändern
konnte. Die Schmachtende konnte ſich nicht enthal¬
ten, dieſe intereſſanten Briefe ihrem Abendzirkel
mitzutheilen. Man nahm dieſelben dort für Grund¬
riſſe zu einem Romane, und bewunderte die feine
Anlage und den Geiſt der Gräfin.

Romana hielt es endlich nicht länger aus, ſie
mußte ihren hohen Feind und Freund, den Grafen

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[293/0299] Ein alter frommer Geiſtlicher vom Dorfe be¬ ſuchte die ſchöne Büßerin fleiſſig. Sie erſtaunte, wie der Mann ſo eigentlich ohne alle Bildung und doch ſo hochgebildet war. Er ſprach ihr oft Stun¬ denlang von den tiefſinnigſten Wahrheiten ſeiner Religion und war dabey immer ſo herzlich heiter, ja, oft voll luſtiger Schwänke, während Sie dabey jedesmal in eine peinliche, gedankenvolle Traurig¬ keit verſank. Er fand manchmal geiſtliche Lieder und Legenden bey ihr, die ſie ſo eben gedichtet. Nichts glich dann ſeiner Freude darüber; er nannte ſie ſein liebes Lämmchen, las die Lieder viermal ſehr aufmerkſam und legte ſie in ſein Gebethbuch. Mein Gott! ſagte da Romana, in Gedanken verlohren, oft zu ſich ſelbſt, wie iſt der gute Mann doch un¬ ſchuldig! — In dieſer Zeit ſchrieb ſie, weniger aus Freund¬ ſchaft als aus Laune und Bedürfniß ſich auszu¬ ſprechen, mehrere Briefe an die Schmachtende in der Reſidenz, im tiefſten Jammer ihrer Seele ver¬ faßt. Sie erſtaunte über ſich ſelbſt, wie moraliſch ſie zu ſchreiben wußte, wie ganz klar ihr ihr Zu¬ ſtand vor Augen lag, und ſie es doch nicht ändern konnte. Die Schmachtende konnte ſich nicht enthal¬ ten, dieſe intereſſanten Briefe ihrem Abendzirkel mitzutheilen. Man nahm dieſelben dort für Grund¬ riſſe zu einem Romane, und bewunderte die feine Anlage und den Geiſt der Gräfin. Romana hielt es endlich nicht länger aus, ſie mußte ihren hohen Feind und Freund, den Grafen

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/299>, abgerufen am 24.11.2024.