pier nur wie ein Brief zusammengelegt und ohne alle Aufschrift war. Voll Erstaunen legte er es wieder neben Erwin hin und sah den lieblichathmen¬ den Knaben nachdenklich an.
Da wachte Erwin auf, verwunderte sich, Frie¬ drich'n und den Brief neben sich zu sehen, steckte das Papier hastig zu sich und sprang auf. Friedrich faßte seine beyden Hände und zog ihn vor sich hin. Was fehlt Dir? fragte er ihn unwiderstehlich gut¬ müthig. Erwin sah ihn mit den großen, schönen Augen lange an, ohne zu antworten, dann sagte er auf einmal schnell, und eine lebhafte Fröhlich¬ keit flog dabey über sein seelenvolles Gesicht: Reisen wir aus der Stadt und weit fort von den Men¬ schen, ich führ' Dich in den großen Wald. -- Von einem großen Walde darauf und einem kühlen Strome und einem Thurm darüber, wo ein Ver¬ storbener wohne, sprach er wunderbar wie aus dunklen, verworrenen Erinnerungen, oft alte Aus¬ sichten aus Friedrichs eigner Kindheit plötzlich auf¬ deckend. Friedrich küßte den begeisterten Knaben auf die Stirn. Da fiel er ihm um den Hals und küßte ihn heftig, mit beyden Armen fest umklam¬ mernd. Voll Erstaunen machte sich Friedrich nur mit Mühe aus seinen Armen los, es war etwas ungewöhnlich Verändertes in seinem Gesicht, eine seltsame Lust in seinen Küssen, seine Lippen brann¬ ten, das Herz schlug fast hörbar, er hatte ihn noch niemals so gesehen.
pier nur wie ein Brief zuſammengelegt und ohne alle Aufſchrift war. Voll Erſtaunen legte er es wieder neben Erwin hin und ſah den lieblichathmen¬ den Knaben nachdenklich an.
Da wachte Erwin auf, verwunderte ſich, Frie¬ drich'n und den Brief neben ſich zu ſehen, ſteckte das Papier haſtig zu ſich und ſprang auf. Friedrich faßte ſeine beyden Hände und zog ihn vor ſich hin. Was fehlt Dir? fragte er ihn unwiderſtehlich gut¬ müthig. Erwin ſah ihn mit den großen, ſchönen Augen lange an, ohne zu antworten, dann ſagte er auf einmal ſchnell, und eine lebhafte Fröhlich¬ keit flog dabey über ſein ſeelenvolles Geſicht: Reiſen wir aus der Stadt und weit fort von den Men¬ ſchen, ich führ' Dich in den großen Wald. — Von einem großen Walde darauf und einem kühlen Strome und einem Thurm darüber, wo ein Ver¬ ſtorbener wohne, ſprach er wunderbar wie aus dunklen, verworrenen Erinnerungen, oft alte Aus¬ ſichten aus Friedrichs eigner Kindheit plötzlich auf¬ deckend. Friedrich küßte den begeiſterten Knaben auf die Stirn. Da fiel er ihm um den Hals und küßte ihn heftig, mit beyden Armen feſt umklam¬ mernd. Voll Erſtaunen machte ſich Friedrich nur mit Mühe aus ſeinen Armen los, es war etwas ungewöhnlich Verändertes in ſeinem Geſicht, eine ſeltſame Luſt in ſeinen Küſſen, ſeine Lippen brann¬ ten, das Herz ſchlug faſt hörbar, er hatte ihn noch niemals ſo geſehen.
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pier nur wie ein Brief zuſammengelegt und ohne
alle Aufſchrift war. Voll Erſtaunen legte er es
wieder neben Erwin hin und ſah den lieblichathmen¬
den Knaben nachdenklich an.
Da wachte Erwin auf, verwunderte ſich, Frie¬
drich'n und den Brief neben ſich zu ſehen, ſteckte
das Papier haſtig zu ſich und ſprang auf. Friedrich
faßte ſeine beyden Hände und zog ihn vor ſich hin.
Was fehlt Dir? fragte er ihn unwiderſtehlich gut¬
müthig. Erwin ſah ihn mit den großen, ſchönen
Augen lange an, ohne zu antworten, dann ſagte
er auf einmal ſchnell, und eine lebhafte Fröhlich¬
keit flog dabey über ſein ſeelenvolles Geſicht: Reiſen
wir aus der Stadt und weit fort von den Men¬
ſchen, ich führ' Dich in den großen Wald. — Von
einem großen Walde darauf und einem kühlen
Strome und einem Thurm darüber, wo ein Ver¬
ſtorbener wohne, ſprach er wunderbar wie aus
dunklen, verworrenen Erinnerungen, oft alte Aus¬
ſichten aus Friedrichs eigner Kindheit plötzlich auf¬
deckend. Friedrich küßte den begeiſterten Knaben
auf die Stirn. Da fiel er ihm um den Hals und
küßte ihn heftig, mit beyden Armen feſt umklam¬
mernd. Voll Erſtaunen machte ſich Friedrich nur
mit Mühe aus ſeinen Armen los, es war etwas
ungewöhnlich Verändertes in ſeinem Geſicht, eine
ſeltſame Luſt in ſeinen Küſſen, ſeine Lippen brann¬
ten, das Herz ſchlug faſt hörbar, er hatte ihn noch
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/275>, abgerufen am 21.11.2024.
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