er stieg hinauf. Ihr Wohnzimmer war auch leer und kein Mensch zur Auskunft. Der Spiegel auf der Toilette stand noch aufgestellt, künstliche Blu¬ men, goldene Kämme und Kleider lagen auf den Stühlen umher; sie mußte das Zimmer unlängst verlassen haben. Er setzte sich an den Tisch und schlug einsam seine Bilder auf. Die treue Farben¬ pracht, die noch so frisch aus den alten Bildern schaute, als wären sie heut gemahlt, rührte ihn; wie da die Genovefa arm und bloß im Walde stand, das Reh vor ihr niederstürzt und hinterdrein der Landgraf mit Rossen, Jägern und Hörnern, wie da so bunte Blumen stehen, unzählige Vögel in den Zweigen mit den glänzenden Flügeln schlagen, wie die Genovefa so schön ist und die Sonne präch¬ tig scheint, alles grün und golden musizierend, und Himmel und Erde voller Freude und Entzückung. -- Mein Gott, mein Gott, sagte Friedrich, warum ist alles auf der Welt so anders geworden! -- Er fand ein Blatt auf dem Tische, worauf Rosa die Zeichnung einer Rose angefangen. Er schrieb, ohne selbst recht zu wissen, was er that: "Lebe wohl" auf das Blatt. Darauf gieng er fort.
Draussen auf der Strasse fiel ihm ein, daß heu¬ te Ball beym Minister sey. Nun übersah er den ganzen Zusammenhang, und gieng sogleich hin, um sich näher zu überzeugen. Dicht und unkenntlich in seinen Mantel gehüllt, stellte er sich in die Thüre unter die zusehenden Bedienten. Er mußte lachen, wie der Marquis so eben in festlichem Staate einzog
er ſtieg hinauf. Ihr Wohnzimmer war auch leer und kein Menſch zur Auskunft. Der Spiegel auf der Toilette ſtand noch aufgeſtellt, künſtliche Blu¬ men, goldene Kämme und Kleider lagen auf den Stühlen umher; ſie mußte das Zimmer unlängſt verlaſſen haben. Er ſetzte ſich an den Tiſch und ſchlug einſam ſeine Bilder auf. Die treue Farben¬ pracht, die noch ſo friſch aus den alten Bildern ſchaute, als wären ſie heut gemahlt, rührte ihn; wie da die Genovefa arm und bloß im Walde ſtand, das Reh vor ihr niederſtürzt und hinterdrein der Landgraf mit Roſſen, Jägern und Hörnern, wie da ſo bunte Blumen ſtehen, unzählige Vögel in den Zweigen mit den glänzenden Flügeln ſchlagen, wie die Genovefa ſo ſchön iſt und die Sonne präch¬ tig ſcheint, alles grün und golden muſizierend, und Himmel und Erde voller Freude und Entzückung. — Mein Gott, mein Gott, ſagte Friedrich, warum iſt alles auf der Welt ſo anders geworden! — Er fand ein Blatt auf dem Tiſche, worauf Roſa die Zeichnung einer Roſe angefangen. Er ſchrieb, ohne ſelbſt recht zu wiſſen, was er that: „Lebe wohl“ auf das Blatt. Darauf gieng er fort.
Drauſſen auf der Straſſe fiel ihm ein, daß heu¬ te Ball beym Miniſter ſey. Nun überſah er den ganzen Zuſammenhang, und gieng ſogleich hin, um ſich näher zu überzeugen. Dicht und unkenntlich in ſeinen Mantel gehüllt, ſtellte er ſich in die Thüre unter die zuſehenden Bedienten. Er mußte lachen, wie der Marquis ſo eben in feſtlichem Staate einzog
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er ſtieg hinauf. Ihr Wohnzimmer war auch leer
und kein Menſch zur Auskunft. Der Spiegel auf
der Toilette ſtand noch aufgeſtellt, künſtliche Blu¬
men, goldene Kämme und Kleider lagen auf den
Stühlen umher; ſie mußte das Zimmer unlängſt
verlaſſen haben. Er ſetzte ſich an den Tiſch und
ſchlug einſam ſeine Bilder auf. Die treue Farben¬
pracht, die noch ſo friſch aus den alten Bildern
ſchaute, als wären ſie heut gemahlt, rührte ihn;
wie da die Genovefa arm und bloß im Walde ſtand,
das Reh vor ihr niederſtürzt und hinterdrein der
Landgraf mit Roſſen, Jägern und Hörnern, wie
da ſo bunte Blumen ſtehen, unzählige Vögel in
den Zweigen mit den glänzenden Flügeln ſchlagen,
wie die Genovefa ſo ſchön iſt und die Sonne präch¬
tig ſcheint, alles grün und golden muſizierend, und
Himmel und Erde voller Freude und Entzückung. —
Mein Gott, mein Gott, ſagte Friedrich, warum iſt
alles auf der Welt ſo anders geworden! — Er
fand ein Blatt auf dem Tiſche, worauf Roſa die
Zeichnung einer Roſe angefangen. Er ſchrieb, ohne
ſelbſt recht zu wiſſen, was er that: „Lebe wohl“
auf das Blatt. Darauf gieng er fort.
Drauſſen auf der Straſſe fiel ihm ein, daß heu¬
te Ball beym Miniſter ſey. Nun überſah er den
ganzen Zuſammenhang, und gieng ſogleich hin, um
ſich näher zu überzeugen. Dicht und unkenntlich in
ſeinen Mantel gehüllt, ſtellte er ſich in die Thüre
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wie der Marquis ſo eben in feſtlichem Staate einzog
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/272>, abgerufen am 22.11.2024.
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