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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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Man hatte indeß an dem Tische die Geschichte
der Gräfin Dolores aufgeschlagen und blätterte
darin hin und her. Die mannigfaltigsten Urtheile
darüber durchkreuzten sich bald. Die Frau vom Haus
und ihr Nachbar, der Schmachtende, sprachen vor
allen anderen bitter und mit einer auffallend gekränk¬
ten Empfindlichkeit und Heftigkeit darüber. Sie
schienen das Buch aus tiefster Seele zu hassen.
Friedrich errieth wohl die Ursache und schwieg. --
Ich muß gestehen, sagte eine junge Dame, ich
kann mich darein nicht verstehen, ich wußte niemals,
was ich aus dieser Geschichte mit den tausend Ge¬
schichten machen soll. Sie haben sehr recht, fiel
ihr einer von den Männern, der sonst unter allen
immer am richtigsten geurtheilet hatte, ins Wort,
es ist mir immer vorgekommen, als sollte dieser
Dichter noch einige Jahre pausiren, um dichten zu
lernen. Welche Sonderbarkeiten, Verrenkungen und
schreyende Uebertreibungen! -- Grade das Gegen¬
theil, unterbrach ihn ein anderer, ich finde das
Ganze nur allzu prosaisch, ohne die himmlische Ue¬
berschwenglichkeit der Phantasie. Wenn wir noch
viele solche Romane erhalten, so wird unsere Poe¬
sie wieder eine bloße allegorische Person der Moral.

Hier hielt sich Friedrich, der dieses Buch hoch
in Ehren hielt, nicht länger. Alles ringsumher,
sagte er, ist prosaisch und gemein, oder groß und
herrlich, wie wir es verdrossen und träge oder be¬
geistert ergreifen. Die größte Sünde aber unserer
jetzigen Poesie ist meines Wissens die gänzliche Ab¬

Man hatte indeß an dem Tiſche die Geſchichte
der Gräfin Dolores aufgeſchlagen und blätterte
darin hin und her. Die mannigfaltigſten Urtheile
darüber durchkreuzten ſich bald. Die Frau vom Haus
und ihr Nachbar, der Schmachtende, ſprachen vor
allen anderen bitter und mit einer auffallend gekränk¬
ten Empfindlichkeit und Heftigkeit darüber. Sie
ſchienen das Buch aus tiefſter Seele zu haſſen.
Friedrich errieth wohl die Urſache und ſchwieg. —
Ich muß geſtehen, ſagte eine junge Dame, ich
kann mich darein nicht verſtehen, ich wußte niemals,
was ich aus dieſer Geſchichte mit den tauſend Ge¬
ſchichten machen ſoll. Sie haben ſehr recht, fiel
ihr einer von den Männern, der ſonſt unter allen
immer am richtigſten geurtheilet hatte, ins Wort,
es iſt mir immer vorgekommen, als ſollte dieſer
Dichter noch einige Jahre pauſiren, um dichten zu
lernen. Welche Sonderbarkeiten, Verrenkungen und
ſchreyende Uebertreibungen! — Grade das Gegen¬
theil, unterbrach ihn ein anderer, ich finde das
Ganze nur allzu proſaiſch, ohne die himmliſche Ue¬
berſchwenglichkeit der Phantaſie. Wenn wir noch
viele ſolche Romane erhalten, ſo wird unſere Poe¬
ſie wieder eine bloße allegoriſche Perſon der Moral.

Hier hielt ſich Friedrich, der dieſes Buch hoch
in Ehren hielt, nicht länger. Alles ringsumher,
ſagte er, iſt proſaiſch und gemein, oder groß und
herrlich, wie wir es verdroſſen und träge oder be¬
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[217/0223] Man hatte indeß an dem Tiſche die Geſchichte der Gräfin Dolores aufgeſchlagen und blätterte darin hin und her. Die mannigfaltigſten Urtheile darüber durchkreuzten ſich bald. Die Frau vom Haus und ihr Nachbar, der Schmachtende, ſprachen vor allen anderen bitter und mit einer auffallend gekränk¬ ten Empfindlichkeit und Heftigkeit darüber. Sie ſchienen das Buch aus tiefſter Seele zu haſſen. Friedrich errieth wohl die Urſache und ſchwieg. — Ich muß geſtehen, ſagte eine junge Dame, ich kann mich darein nicht verſtehen, ich wußte niemals, was ich aus dieſer Geſchichte mit den tauſend Ge¬ ſchichten machen ſoll. Sie haben ſehr recht, fiel ihr einer von den Männern, der ſonſt unter allen immer am richtigſten geurtheilet hatte, ins Wort, es iſt mir immer vorgekommen, als ſollte dieſer Dichter noch einige Jahre pauſiren, um dichten zu lernen. Welche Sonderbarkeiten, Verrenkungen und ſchreyende Uebertreibungen! — Grade das Gegen¬ theil, unterbrach ihn ein anderer, ich finde das Ganze nur allzu proſaiſch, ohne die himmliſche Ue¬ berſchwenglichkeit der Phantaſie. Wenn wir noch viele ſolche Romane erhalten, ſo wird unſere Poe¬ ſie wieder eine bloße allegoriſche Perſon der Moral. Hier hielt ſich Friedrich, der dieſes Buch hoch in Ehren hielt, nicht länger. Alles ringsumher, ſagte er, iſt proſaiſch und gemein, oder groß und herrlich, wie wir es verdroſſen und träge oder be¬ geiſtert ergreifen. Die größte Sünde aber unſerer jetzigen Poeſie iſt meines Wiſſens die gänzliche Ab¬

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/223>, abgerufen am 21.11.2024.