[Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893.zu Tag liege, daß besagte Faustina nicht als legitim angetraute Gemahlin, sondern als vagabundirendes Frauenzimmer ohne jeden sittlichen Halt zu denken sei. Alle Einwände, wie zum Beispiel die Behauptung, der Sänger habe sich in die moralische Denk- und Gefühlsweise des Altertums versetzt und dem Properz nachgeeifert, der doch ungenirt und unbeanstandet sein: "Lectule deliciis facte beate meis!" in die klassische Luft seiner Epoche hinausjubilire, verwarf der schroff-urtheilende Kunstrichter als unzulänglich, sintemalen die ewigen Sittengesetze zu allen Zeiten die gleichen seien. Wie der Donner dem Blitz, so folge in der Seele des correkt organisirten Menschen die Entrüstung dem moralischen Verstoße - ganz unabhängig von den Schwankungen einer äußerlichen Mode. Dieses angeborene Sittlichkeitsgefühl könne zwar momentan getrübt, aber nie wesentlich modificirt werden. Johannes Wolfgang von Goethe sei also trotz seiner großen dichterischen Begabung ein unmoralischer Autor und verdiene von wohlgesinnten deutschen Familienvätern fürderhin nicht mehr gelesen zu werden. So mein Kritiker aus dem letzten Decenium des vorigen Jahrhunderts. Seine Bemerkungen hatten mich nachdenklich gemacht. Es war inzwischen vollständig Nacht geworden, und da ich nichts Besseres zu thun wußte, so streckte ich mich langswegs auf das Sopha und lauschte dem einthönigen Ticken der Pendeluhr - eine Beschäftigung, die mich nach wenigen Minuten in einen magnetischen Halbschlaf wiegte. Während dieses Zustandes hatte ich einen seltsamen Traum, dessen vornehmste Züge ich hier zu Papier bringen will. Ich sah mich an den Ufern des Ganges, in phantastischer zu Tag liege, daß besagte Faustina nicht als legitim angetraute Gemahlin, sondern als vagabundirendes Frauenzimmer ohne jeden sittlichen Halt zu denken sei. Alle Einwände, wie zum Beispiel die Behauptung, der Sänger habe sich in die moralische Denk- und Gefühlsweise des Altertums versetzt und dem Properz nachgeeifert, der doch ungenirt und unbeanstandet sein: „Lectule deliciis facte beate meis!“ in die klassische Luft seiner Epoche hinausjubilire, verwarf der schroff-urtheilende Kunstrichter als unzulänglich, sintemalen die ewigen Sittengesetze zu allen Zeiten die gleichen seien. Wie der Donner dem Blitz, so folge in der Seele des correkt organisirten Menschen die Entrüstung dem moralischen Verstoße – ganz unabhängig von den Schwankungen einer äußerlichen Mode. Dieses angeborene Sittlichkeitsgefühl könne zwar momentan getrübt, aber nie wesentlich modificirt werden. Johannes Wolfgang von Goethe sei also trotz seiner großen dichterischen Begabung ein unmoralischer Autor und verdiene von wohlgesinnten deutschen Familienvätern fürderhin nicht mehr gelesen zu werden. So mein Kritiker aus dem letzten Decenium des vorigen Jahrhunderts. Seine Bemerkungen hatten mich nachdenklich gemacht. Es war inzwischen vollständig Nacht geworden, und da ich nichts Besseres zu thun wußte, so streckte ich mich langswegs auf das Sopha und lauschte dem einthönigen Ticken der Pendeluhr – eine Beschäftigung, die mich nach wenigen Minuten in einen magnetischen Halbschlaf wiegte. Während dieses Zustandes hatte ich einen seltsamen Traum, dessen vornehmste Züge ich hier zu Papier bringen will. Ich sah mich an den Ufern des Ganges, in phantastischer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0024" n="22"/> zu Tag liege, daß besagte Faustina nicht als legitim angetraute Gemahlin, sondern als vagabundirendes Frauenzimmer ohne jeden sittlichen Halt zu denken sei. 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Johannes Wolfgang von Goethe sei also trotz seiner großen dichterischen Begabung ein unmoralischer Autor und verdiene von wohlgesinnten deutschen Familienvätern fürderhin nicht mehr gelesen zu werden.</p> <p>So mein Kritiker aus dem letzten Decenium des vorigen Jahrhunderts.</p> <p>Seine Bemerkungen hatten mich nachdenklich gemacht. Es war inzwischen vollständig Nacht geworden, und da ich nichts Besseres zu thun wußte, so streckte ich mich langswegs auf das Sopha und lauschte dem einthönigen Ticken der Pendeluhr – eine Beschäftigung, die mich nach wenigen Minuten in einen magnetischen Halbschlaf wiegte.</p> <p>Während dieses Zustandes hatte ich einen seltsamen Traum, dessen vornehmste Züge ich hier zu Papier bringen will.</p> <p>Ich sah mich an den Ufern des Ganges, in phantastischer </p> </div> </body> </text> </TEI> [22/0024]
zu Tag liege, daß besagte Faustina nicht als legitim angetraute Gemahlin, sondern als vagabundirendes Frauenzimmer ohne jeden sittlichen Halt zu denken sei. Alle Einwände, wie zum Beispiel die Behauptung, der Sänger habe sich in die moralische Denk- und Gefühlsweise des Altertums versetzt und dem Properz nachgeeifert, der doch ungenirt und unbeanstandet sein: „Lectule deliciis facte beate meis!“ in die klassische Luft seiner Epoche hinausjubilire, verwarf der schroff-urtheilende Kunstrichter als unzulänglich, sintemalen die ewigen Sittengesetze zu allen Zeiten die gleichen seien. Wie der Donner dem Blitz, so folge in der Seele des correkt organisirten Menschen die Entrüstung dem moralischen Verstoße – ganz unabhängig von den Schwankungen einer äußerlichen Mode. Dieses angeborene Sittlichkeitsgefühl könne zwar momentan getrübt, aber nie wesentlich modificirt werden. Johannes Wolfgang von Goethe sei also trotz seiner großen dichterischen Begabung ein unmoralischer Autor und verdiene von wohlgesinnten deutschen Familienvätern fürderhin nicht mehr gelesen zu werden.
So mein Kritiker aus dem letzten Decenium des vorigen Jahrhunderts.
Seine Bemerkungen hatten mich nachdenklich gemacht. Es war inzwischen vollständig Nacht geworden, und da ich nichts Besseres zu thun wußte, so streckte ich mich langswegs auf das Sopha und lauschte dem einthönigen Ticken der Pendeluhr – eine Beschäftigung, die mich nach wenigen Minuten in einen magnetischen Halbschlaf wiegte.
Während dieses Zustandes hatte ich einen seltsamen Traum, dessen vornehmste Züge ich hier zu Papier bringen will.
Ich sah mich an den Ufern des Ganges, in phantastischer
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Zitationshilfe: | [Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckstein_dudler_1893/24>, abgerufen am 16.02.2025. |