Gelehrten sich um die Priorität streiten. "Ich habe durch nichts die Menschen besser kennen gelernt, sagte Goethe, als durch meine wissenschaftlichen Bestrebungen. Ich habe es mich viel kosten lassen und es ist mit manchen Leiden verknüpft gewesen; aber ich freue mich dennoch die Erfahrung gemacht zu haben."
In den Wissenschaften, bemerkte ich, scheint auf eine besondere Weise der Egoismus der Menschen angeregt zu werden; und wenn dieser einmal in Bewegung gesetzt ist, so pflegen sehr bald alle Schwächen des Charakters zum Vorschein zu kommen.
"Die Fragen der Wissenschaft, versetzte Goethe, sind sehr häufig Fragen der Existenz. Eine einzige Entdeckung kann einen Mann berühmt machen und sein bürgerliches Glück begründen. Deßhalb herrscht auch in den Wissen¬ schaften diese große Strenge und dieses Festhalten und diese Eifersucht auf das Apercü eines Andern. Im Reich der Aesthetik dagegen ist Alles weit läßlicher; die Gedanken sind mehr oder weniger ein angeborenes Eigenthum aller Menschen, wobei Alles auf die Behand¬ lung und Ausführung ankommt und billigerweise wenig Neid stattfindet. Ein einziger Gedanke kann das Fundament zu hundert Epigrammen hergeben und es fragt sich bloß, welcher Poet denn nun diesen Gedanken auf die wirksamste und schönste Weise zu versinnlichen gewußt habe."
"Bei der Wissenschaft aber ist die Behandlung null,
Gelehrten ſich um die Priorität ſtreiten. „Ich habe durch nichts die Menſchen beſſer kennen gelernt, ſagte Goethe, als durch meine wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen. Ich habe es mich viel koſten laſſen und es iſt mit manchen Leiden verknüpft geweſen; aber ich freue mich dennoch die Erfahrung gemacht zu haben.“
In den Wiſſenſchaften, bemerkte ich, ſcheint auf eine beſondere Weiſe der Egoismus der Menſchen angeregt zu werden; und wenn dieſer einmal in Bewegung geſetzt iſt, ſo pflegen ſehr bald alle Schwächen des Charakters zum Vorſchein zu kommen.
„Die Fragen der Wiſſenſchaft, verſetzte Goethe, ſind ſehr häufig Fragen der Exiſtenz. Eine einzige Entdeckung kann einen Mann berühmt machen und ſein bürgerliches Glück begründen. Deßhalb herrſcht auch in den Wiſſen¬ ſchaften dieſe große Strenge und dieſes Feſthalten und dieſe Eiferſucht auf das Aperçü eines Andern. Im Reich der Aeſthetik dagegen iſt Alles weit läßlicher; die Gedanken ſind mehr oder weniger ein angeborenes Eigenthum aller Menſchen, wobei Alles auf die Behand¬ lung und Ausführung ankommt und billigerweiſe wenig Neid ſtattfindet. Ein einziger Gedanke kann das Fundament zu hundert Epigrammen hergeben und es fragt ſich bloß, welcher Poet denn nun dieſen Gedanken auf die wirkſamſte und ſchönſte Weiſe zu verſinnlichen gewußt habe.“
„Bei der Wiſſenſchaft aber iſt die Behandlung null,
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Gelehrten ſich um die Priorität ſtreiten. „Ich habe durch
nichts die Menſchen beſſer kennen gelernt, ſagte Goethe,
als durch meine wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen. Ich
habe es mich viel koſten laſſen und es iſt mit manchen
Leiden verknüpft geweſen; aber ich freue mich dennoch
die Erfahrung gemacht zu haben.“
In den Wiſſenſchaften, bemerkte ich, ſcheint auf eine
beſondere Weiſe der Egoismus der Menſchen angeregt
zu werden; und wenn dieſer einmal in Bewegung geſetzt
iſt, ſo pflegen ſehr bald alle Schwächen des Charakters
zum Vorſchein zu kommen.
„Die Fragen der Wiſſenſchaft, verſetzte Goethe, ſind
ſehr häufig Fragen der Exiſtenz. Eine einzige Entdeckung
kann einen Mann berühmt machen und ſein bürgerliches
Glück begründen. Deßhalb herrſcht auch in den Wiſſen¬
ſchaften dieſe große Strenge und dieſes Feſthalten und
dieſe Eiferſucht auf das Aperçü eines Andern. Im
Reich der Aeſthetik dagegen iſt Alles weit läßlicher; die
Gedanken ſind mehr oder weniger ein angeborenes
Eigenthum aller Menſchen, wobei Alles auf die Behand¬
lung und Ausführung ankommt und billigerweiſe wenig
Neid ſtattfindet. Ein einziger Gedanke kann das
Fundament zu hundert Epigrammen hergeben und es
fragt ſich bloß, welcher Poet denn nun dieſen Gedanken
auf die wirkſamſte und ſchönſte Weiſe zu verſinnlichen
gewußt habe.“
„Bei der Wiſſenſchaft aber iſt die Behandlung null,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/48>, abgerufen am 04.05.2024.
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