Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

richtungen des Herrn und der aristocratischen Tugend
des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener
Monarch abgeht und eine andere Personage auftritt,
die zu schlecht ist, als daß St. Simon sich zu seinem
Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lec¬
türe mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein,
und ich verließ das Buch da, wo mich der "Tyran"
verließ."

Auch den Globe und Temps, den Goethe seit meh¬
reren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er seit
etwa vierzehn Tagen zu lesen aufgehört. Sowie die
Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er
sie uneröffnet bei Seite. Indeß bittet er seine Freunde,
ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er ist seit
einiger Zeit sehr productiv und ganz vertieft im zwei¬
ten Theile seines Faust. Besonders ist es die classische
Walpurgisnacht, die ihn seit einigen Wochen ganz hin¬
nimmt und die dadurch auch rasch und bedeutend heran¬
wächst. In solchen durchaus productiven Epochen liebt
Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß
sie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohl¬
thätiges Ausruhen diente, oder auch, daß sie mit dem
Gegenstande, den er eben unter Händen hat, in
Harmonie stände und dazu behülflich wäre. Er meidet
sie dagegen ganz entschieden, wenn sie so bedeutend und
aufregend wirkte, daß sie seine ruhige Production stö¬
ren und sein thätiges Interesse zersplittern und ab¬

richtungen des Herrn und der ariſtocratiſchen Tugend
des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener
Monarch abgeht und eine andere Perſonage auftritt,
die zu ſchlecht iſt, als daß St. Simon ſich zu ſeinem
Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lec¬
türe mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein,
und ich verließ das Buch da, wo mich der „Tyran
verließ.“

Auch den Globe und Temps, den Goethe ſeit meh¬
reren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er ſeit
etwa vierzehn Tagen zu leſen aufgehört. Sowie die
Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er
ſie uneröffnet bei Seite. Indeß bittet er ſeine Freunde,
ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er iſt ſeit
einiger Zeit ſehr productiv und ganz vertieft im zwei¬
ten Theile ſeines Fauſt. Beſonders iſt es die claſſiſche
Walpurgisnacht, die ihn ſeit einigen Wochen ganz hin¬
nimmt und die dadurch auch raſch und bedeutend heran¬
wächſt. In ſolchen durchaus productiven Epochen liebt
Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß
ſie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohl¬
thätiges Ausruhen diente, oder auch, daß ſie mit dem
Gegenſtande, den er eben unter Händen hat, in
Harmonie ſtände und dazu behülflich wäre. Er meidet
ſie dagegen ganz entſchieden, wenn ſie ſo bedeutend und
aufregend wirkte, daß ſie ſeine ruhige Production ſtö¬
ren und ſein thätiges Intereſſe zerſplittern und ab¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0323" n="301"/>
richtungen des Herrn und der ari&#x017F;tocrati&#x017F;chen Tugend<lb/>
des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener<lb/>
Monarch abgeht und eine andere Per&#x017F;onage auftritt,<lb/>
die zu &#x017F;chlecht i&#x017F;t, als daß St. Simon &#x017F;ich zu &#x017F;einem<lb/>
Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lec¬<lb/>
türe mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein,<lb/>
und ich verließ das Buch da, wo mich der &#x201E;<hi rendition="#g">Tyran</hi>&#x201C;<lb/>
verließ.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Auch den Globe und Temps, den Goethe &#x017F;eit meh¬<lb/>
reren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er &#x017F;eit<lb/>
etwa vierzehn Tagen zu le&#x017F;en aufgehört. Sowie die<lb/>
Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er<lb/>
&#x017F;ie uneröffnet bei Seite. Indeß bittet er &#x017F;eine Freunde,<lb/>
ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er i&#x017F;t &#x017F;eit<lb/>
einiger Zeit &#x017F;ehr productiv und ganz vertieft im zwei¬<lb/>
ten Theile &#x017F;eines Fau&#x017F;t. Be&#x017F;onders i&#x017F;t es die cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che<lb/>
Walpurgisnacht, die ihn &#x017F;eit einigen Wochen ganz hin¬<lb/>
nimmt und die dadurch auch ra&#x017F;ch und bedeutend heran¬<lb/>
wäch&#x017F;t. In &#x017F;olchen durchaus productiven Epochen liebt<lb/>
Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß<lb/>
&#x017F;ie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohl¬<lb/>
thätiges Ausruhen diente, oder auch, daß &#x017F;ie mit dem<lb/>
Gegen&#x017F;tande, den er eben unter Händen hat, in<lb/>
Harmonie &#x017F;tände und dazu behülflich wäre. Er meidet<lb/>
&#x017F;ie dagegen ganz ent&#x017F;chieden, wenn &#x017F;ie &#x017F;o bedeutend und<lb/>
aufregend wirkte, daß &#x017F;ie &#x017F;eine ruhige Production &#x017F;tö¬<lb/>
ren und &#x017F;ein thätiges Intere&#x017F;&#x017F;e zer&#x017F;plittern und ab¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301/0323] richtungen des Herrn und der ariſtocratiſchen Tugend des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener Monarch abgeht und eine andere Perſonage auftritt, die zu ſchlecht iſt, als daß St. Simon ſich zu ſeinem Vortheil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lec¬ türe mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein, und ich verließ das Buch da, wo mich der „Tyran“ verließ.“ Auch den Globe und Temps, den Goethe ſeit meh¬ reren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er ſeit etwa vierzehn Tagen zu leſen aufgehört. Sowie die Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er ſie uneröffnet bei Seite. Indeß bittet er ſeine Freunde, ihm zu erzählen was in der Welt vorgeht. Er iſt ſeit einiger Zeit ſehr productiv und ganz vertieft im zwei¬ ten Theile ſeines Fauſt. Beſonders iſt es die claſſiſche Walpurgisnacht, die ihn ſeit einigen Wochen ganz hin¬ nimmt und die dadurch auch raſch und bedeutend heran¬ wächſt. In ſolchen durchaus productiven Epochen liebt Goethe die Lectüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß ſie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohl¬ thätiges Ausruhen diente, oder auch, daß ſie mit dem Gegenſtande, den er eben unter Händen hat, in Harmonie ſtände und dazu behülflich wäre. Er meidet ſie dagegen ganz entſchieden, wenn ſie ſo bedeutend und aufregend wirkte, daß ſie ſeine ruhige Production ſtö¬ ren und ſein thätiges Intereſſe zerſplittern und ab¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/323
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/323>, abgerufen am 03.12.2024.