wenigstens nicht mehr mit der grausamen Ungewißheit zu kämpfen. Wir müssen nun sehen, wie wir uns mit dem Leben wieder zurecht setzen."
Dort sind ihre Tröster, sagte ich, indem ich auf seine Papiere zeigte. Die Arbeit ist ein treffliches Mittel, uns in Leiden wieder emporzurichten.
"So lange es Tag ist, erwiederte Goethe, wollen wir den Kopf schon oben halten, und so lange wir noch hervorbringen können, werden wir nicht nachlassen."
Er sprach darauf über Personen, die ein hohes Alter erreicht, und erwähnte auch die berühmte Ninon. "Noch in ihrem neunzigsten Jahre, sagte er, war sie jung; aber sie verstand es auch, sich im Gleichgewicht zu erhalten, und machte sich aus den irdischen Dingen nicht mehr als billig. Selbst der Tod konnte ihr keinen übermäßigen Respect einflößen. Als sie in ih¬ rem achtzehnten Jahre von einer schweren Krankheit genas und die Umstehenden ihr die Gefahr schilderten, in der sie geschwebt, sagte sie ganz ruhig: "Was wäre es denn weiter gewesen! Hätte ich doch lauter Sterb¬ liche zurückgelassen! --" Sie lebte darauf noch über siebenzig Jahre, liebenswürdig und geliebt, und alle Freuden des Lebens genießend; aber bei diesem ihr eigenthümlichen Gleichmuth sich stets über jeder ver¬ zehrenden Leidenschaftlichkeit erhaben haltend. Ninon verstand es! -- Es giebt Wenige, die ihr es nachthun."
Er reichte mir sodann einen Brief des Königs von
wenigſtens nicht mehr mit der grauſamen Ungewißheit zu kämpfen. Wir müſſen nun ſehen, wie wir uns mit dem Leben wieder zurecht ſetzen.“
Dort ſind ihre Tröſter, ſagte ich, indem ich auf ſeine Papiere zeigte. Die Arbeit iſt ein treffliches Mittel, uns in Leiden wieder emporzurichten.
„So lange es Tag iſt, erwiederte Goethe, wollen wir den Kopf ſchon oben halten, und ſo lange wir noch hervorbringen können, werden wir nicht nachlaſſen.“
Er ſprach darauf über Perſonen, die ein hohes Alter erreicht, und erwähnte auch die berühmte Ninon. „Noch in ihrem neunzigſten Jahre, ſagte er, war ſie jung; aber ſie verſtand es auch, ſich im Gleichgewicht zu erhalten, und machte ſich aus den irdiſchen Dingen nicht mehr als billig. Selbſt der Tod konnte ihr keinen übermäßigen Reſpect einflößen. Als ſie in ih¬ rem achtzehnten Jahre von einer ſchweren Krankheit genas und die Umſtehenden ihr die Gefahr ſchilderten, in der ſie geſchwebt, ſagte ſie ganz ruhig: „Was wäre es denn weiter geweſen! Hätte ich doch lauter Sterb¬ liche zurückgelaſſen! —“ Sie lebte darauf noch über ſiebenzig Jahre, liebenswürdig und geliebt, und alle Freuden des Lebens genießend; aber bei dieſem ihr eigenthümlichen Gleichmuth ſich ſtets über jeder ver¬ zehrenden Leidenſchaftlichkeit erhaben haltend. Ninon verſtand es! — Es giebt Wenige, die ihr es nachthun.“
Er reichte mir ſodann einen Brief des Königs von
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wenigſtens nicht mehr mit der grauſamen Ungewißheit
zu kämpfen. Wir müſſen nun ſehen, wie wir uns mit
dem Leben wieder zurecht ſetzen.“
Dort ſind ihre Tröſter, ſagte ich, indem ich auf
ſeine Papiere zeigte. Die Arbeit iſt ein treffliches
Mittel, uns in Leiden wieder emporzurichten.
„So lange es Tag iſt, erwiederte Goethe, wollen
wir den Kopf ſchon oben halten, und ſo lange wir noch
hervorbringen können, werden wir nicht nachlaſſen.“
Er ſprach darauf über Perſonen, die ein hohes
Alter erreicht, und erwähnte auch die berühmte Ninon.
„Noch in ihrem neunzigſten Jahre, ſagte er, war ſie
jung; aber ſie verſtand es auch, ſich im Gleichgewicht
zu erhalten, und machte ſich aus den irdiſchen Dingen
nicht mehr als billig. Selbſt der Tod konnte ihr
keinen übermäßigen Reſpect einflößen. Als ſie in ih¬
rem achtzehnten Jahre von einer ſchweren Krankheit
genas und die Umſtehenden ihr die Gefahr ſchilderten,
in der ſie geſchwebt, ſagte ſie ganz ruhig: „Was wäre
es denn weiter geweſen! Hätte ich doch lauter Sterb¬
liche zurückgelaſſen! —“ Sie lebte darauf noch über
ſiebenzig Jahre, liebenswürdig und geliebt, und alle
Freuden des Lebens genießend; aber bei dieſem ihr
eigenthümlichen Gleichmuth ſich ſtets über jeder ver¬
zehrenden Leidenſchaftlichkeit erhaben haltend. Ninon
verſtand es! — Es giebt Wenige, die ihr es nachthun.“
Er reichte mir ſodann einen Brief des Königs von
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/314>, abgerufen am 21.11.2024.
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