Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein
Reisekoffer durch alle sechs und dreißig Staaten unge¬
öffnet passiren könne. Es sey eins, daß der städtische
Reisepaß eines Weimar'schen Bürgers von dem Grenz¬
beamten eines großen Nachbarstaates nicht für unzu¬
länglich gehalten werde, als der Paß eines Auslän¬
ders
. Es sey von Inland und Ausland unter deut¬
schen Staaten überall keine Rede mehr. Deutschland
sey ferner eins in Maaß und Gewicht, in Handel und
Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht
alle nennen kann und mag."

"Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands
bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige
große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz,
wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Ta¬
lente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes
gereiche, so ist man im Irrthum."

"Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Kör¬
per mit vielen Gliedern verglichen, und so ließe sich
wohl die Residenz eines Staates dem Herzen verglei¬
chen, von welchem aus Leben und Wohlseyn in die
einzelnen nahen und fernen Glieder strömt. Sind aber
die Glieder sehr ferne vom Herzen, so wird das zuströ¬
mende Leben schwach und immer schwächer empfunden
werden. Ein geistreicher Franzose, ich glaube Dupin,
hat eine Karte über den Culturzustand Frankreichs ent¬
worfen, und die größere oder geringere Aufklärung der

ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein
Reiſekoffer durch alle ſechs und dreißig Staaten unge¬
öffnet paſſiren könne. Es ſey eins, daß der ſtädtiſche
Reiſepaß eines Weimar'ſchen Bürgers von dem Grenz¬
beamten eines großen Nachbarſtaates nicht für unzu¬
länglich gehalten werde, als der Paß eines Auslän¬
ders
. Es ſey von Inland und Ausland unter deut¬
ſchen Staaten überall keine Rede mehr. Deutſchland
ſey ferner eins in Maaß und Gewicht, in Handel und
Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht
alle nennen kann und mag.“

„Wenn man aber denkt, die Einheit Deutſchlands
beſtehe darin, daß das ſehr große Reich eine einzige
große Reſidenz habe, und daß dieſe eine große Reſidenz,
wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Ta¬
lente, ſo auch zum Wohl der großen Maſſe des Volkes
gereiche, ſo iſt man im Irrthum.“

„Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Kör¬
per mit vielen Gliedern verglichen, und ſo ließe ſich
wohl die Reſidenz eines Staates dem Herzen verglei¬
chen, von welchem aus Leben und Wohlſeyn in die
einzelnen nahen und fernen Glieder ſtrömt. Sind aber
die Glieder ſehr ferne vom Herzen, ſo wird das zuſtrö¬
mende Leben ſchwach und immer ſchwächer empfunden
werden. Ein geiſtreicher Franzoſe, ich glaube Dupin,
hat eine Karte über den Culturzuſtand Frankreichs ent¬
worfen, und die größere oder geringere Aufklärung der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0293" n="271"/>
ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein<lb/>
Rei&#x017F;ekoffer durch alle &#x017F;echs und dreißig Staaten unge¬<lb/>
öffnet pa&#x017F;&#x017F;iren könne. Es &#x017F;ey eins, daß der &#x017F;tädti&#x017F;che<lb/>
Rei&#x017F;epaß eines Weimar'&#x017F;chen Bürgers von dem Grenz¬<lb/>
beamten eines großen Nachbar&#x017F;taates nicht für unzu¬<lb/>
länglich gehalten werde, als der Paß eines <hi rendition="#g">Auslän¬<lb/>
ders</hi>. Es &#x017F;ey von Inland und Ausland unter deut¬<lb/>
&#x017F;chen Staaten überall keine Rede mehr. Deut&#x017F;chland<lb/>
&#x017F;ey ferner eins in Maaß und Gewicht, in Handel und<lb/>
Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht<lb/>
alle nennen kann und mag.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Wenn man aber denkt, die Einheit Deut&#x017F;chlands<lb/>
be&#x017F;tehe darin, daß das &#x017F;ehr große Reich eine einzige<lb/>
große Re&#x017F;idenz habe, und daß die&#x017F;e eine große Re&#x017F;idenz,<lb/>
wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Ta¬<lb/>
lente, &#x017F;o auch zum Wohl der großen Ma&#x017F;&#x017F;e des Volkes<lb/>
gereiche, &#x017F;o i&#x017F;t man im Irrthum.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Kör¬<lb/>
per mit vielen Gliedern verglichen, und &#x017F;o ließe &#x017F;ich<lb/>
wohl die Re&#x017F;idenz eines Staates dem Herzen verglei¬<lb/>
chen, von welchem aus Leben und Wohl&#x017F;eyn in die<lb/>
einzelnen nahen und fernen Glieder &#x017F;trömt. Sind aber<lb/>
die Glieder &#x017F;ehr ferne vom Herzen, &#x017F;o wird das zu&#x017F;trö¬<lb/>
mende Leben &#x017F;chwach und immer &#x017F;chwächer empfunden<lb/>
werden. Ein gei&#x017F;treicher Franzo&#x017F;e, ich glaube Dupin,<lb/>
hat eine Karte über den Culturzu&#x017F;tand Frankreichs ent¬<lb/>
worfen, und die größere oder geringere Aufklärung der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[271/0293] ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein Reiſekoffer durch alle ſechs und dreißig Staaten unge¬ öffnet paſſiren könne. Es ſey eins, daß der ſtädtiſche Reiſepaß eines Weimar'ſchen Bürgers von dem Grenz¬ beamten eines großen Nachbarſtaates nicht für unzu¬ länglich gehalten werde, als der Paß eines Auslän¬ ders. Es ſey von Inland und Ausland unter deut¬ ſchen Staaten überall keine Rede mehr. Deutſchland ſey ferner eins in Maaß und Gewicht, in Handel und Wandel, und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag.“ „Wenn man aber denkt, die Einheit Deutſchlands beſtehe darin, daß das ſehr große Reich eine einzige große Reſidenz habe, und daß dieſe eine große Reſidenz, wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Ta¬ lente, ſo auch zum Wohl der großen Maſſe des Volkes gereiche, ſo iſt man im Irrthum.“ „Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Kör¬ per mit vielen Gliedern verglichen, und ſo ließe ſich wohl die Reſidenz eines Staates dem Herzen verglei¬ chen, von welchem aus Leben und Wohlſeyn in die einzelnen nahen und fernen Glieder ſtrömt. Sind aber die Glieder ſehr ferne vom Herzen, ſo wird das zuſtrö¬ mende Leben ſchwach und immer ſchwächer empfunden werden. Ein geiſtreicher Franzoſe, ich glaube Dupin, hat eine Karte über den Culturzuſtand Frankreichs ent¬ worfen, und die größere oder geringere Aufklärung der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/293
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/293>, abgerufen am 21.11.2024.