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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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durch unser Gärtchen zu laufen, nach dem Hause hin,
wo ich den Vogel gesehen. Wie groß war aber mein
Erstaunen, als der Vogel wirklich da war! Es geschah
nun buchstäblich Alles, wie ich es im Traume gesehen.
Ich locke ihn, er kommt näher; aber er zögert, auf
meine Hand zu fliegen. Ich laufe zurück und hole das
Futter, und er fliegt auf meine Hand und ich bringe
ihn wieder zu den andern.

"Dieses Ihr Knabenereigniß, sagte Goethe, ist aller¬
dings höchst merkwürdig. Aber dergleichen liegt sehr
wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den
rechten Schlüssel haben. Wir wandeln Alle in Geheim¬
nissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben, von
der wir noch gar nicht wissen, was sich Alles in ihr
regt und wie es mit unserm Geiste in Verbindung
steht. So viel ist wohl gewiß, daß in besondern Zu¬
ständen die Fühlfäden unserer Seele über ihre körper¬
lichen Grenzen hinausreichen können, und ihr ein Vor¬
gefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächste Zu¬
kunft gestattet ist."

Etwas Aehnliches, erwiederte ich, habe ich erst neu¬
lich erlebt, wo ich von einem Spaziergange auf der
Erfurter Chaussee zurückkam, und ich etwa zehn Minu¬
ten vor Weimar den geistigen Eindruck hatte, wie an
der Ecke des Theaters mir eine Person begegnete, die
ich seit Jahr und Tag nicht gesehen, und an die
ich sehr lange ebensowenig gedacht. Es beunruhigte

durch unſer Gärtchen zu laufen, nach dem Hauſe hin,
wo ich den Vogel geſehen. Wie groß war aber mein
Erſtaunen, als der Vogel wirklich da war! Es geſchah
nun buchſtäblich Alles, wie ich es im Traume geſehen.
Ich locke ihn, er kommt näher; aber er zögert, auf
meine Hand zu fliegen. Ich laufe zurück und hole das
Futter, und er fliegt auf meine Hand und ich bringe
ihn wieder zu den andern.

„Dieſes Ihr Knabenereigniß, ſagte Goethe, iſt aller¬
dings höchſt merkwürdig. Aber dergleichen liegt ſehr
wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den
rechten Schlüſſel haben. Wir wandeln Alle in Geheim¬
niſſen. Wir ſind von einer Atmosphäre umgeben, von
der wir noch gar nicht wiſſen, was ſich Alles in ihr
regt und wie es mit unſerm Geiſte in Verbindung
ſteht. So viel iſt wohl gewiß, daß in beſondern Zu¬
ſtänden die Fühlfäden unſerer Seele über ihre körper¬
lichen Grenzen hinausreichen können, und ihr ein Vor¬
gefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächſte Zu¬
kunft geſtattet iſt.“

Etwas Aehnliches, erwiederte ich, habe ich erſt neu¬
lich erlebt, wo ich von einem Spaziergange auf der
Erfurter Chauſſee zurückkam, und ich etwa zehn Minu¬
ten vor Weimar den geiſtigen Eindruck hatte, wie an
der Ecke des Theaters mir eine Perſon begegnete, die
ich ſeit Jahr und Tag nicht geſehen, und an die
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[199/0221] durch unſer Gärtchen zu laufen, nach dem Hauſe hin, wo ich den Vogel geſehen. Wie groß war aber mein Erſtaunen, als der Vogel wirklich da war! Es geſchah nun buchſtäblich Alles, wie ich es im Traume geſehen. Ich locke ihn, er kommt näher; aber er zögert, auf meine Hand zu fliegen. Ich laufe zurück und hole das Futter, und er fliegt auf meine Hand und ich bringe ihn wieder zu den andern. „Dieſes Ihr Knabenereigniß, ſagte Goethe, iſt aller¬ dings höchſt merkwürdig. Aber dergleichen liegt ſehr wohl in der Natur, wenn wir auch dazu noch nicht den rechten Schlüſſel haben. Wir wandeln Alle in Geheim¬ niſſen. Wir ſind von einer Atmosphäre umgeben, von der wir noch gar nicht wiſſen, was ſich Alles in ihr regt und wie es mit unſerm Geiſte in Verbindung ſteht. So viel iſt wohl gewiß, daß in beſondern Zu¬ ſtänden die Fühlfäden unſerer Seele über ihre körper¬ lichen Grenzen hinausreichen können, und ihr ein Vor¬ gefühl, ja auch ein wirklicher Blick in die nächſte Zu¬ kunft geſtattet iſt.“ Etwas Aehnliches, erwiederte ich, habe ich erſt neu¬ lich erlebt, wo ich von einem Spaziergange auf der Erfurter Chauſſee zurückkam, und ich etwa zehn Minu¬ ten vor Weimar den geiſtigen Eindruck hatte, wie an der Ecke des Theaters mir eine Perſon begegnete, die ich ſeit Jahr und Tag nicht geſehen, und an die ich ſehr lange ebenſowenig gedacht. Es beunruhigte

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/221>, abgerufen am 18.05.2024.