Locke von seinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte mich, sie ihm abzuschneiden. Der Körper lag nackend in ein weißes Betttuch gehüllet, große Eisstücke hatte man in einiger Nähe umhergestellt, um ihn frisch zu erhalten so lange als möglich. Friedrich schlug das Tuch auseinander, und ich erstaunte über die göttliche Pracht dieser Glieder. Die Brust überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme und Schenkel voll und sanft mus¬ kulös; die Füße zierlich und von der reinsten Form; und nirgends am ganzen Körper eine Spur von Fettig¬ keit, oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer Schönheit vor mir, und das Entzücken, das ich darüber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergessen, daß der unsterbliche Geist eine solche Hülle verlassen. Ich legte meine Hand auf sein Herz, -- es war überall eine tiefe Stille, -- und ich wendete mich abwärts, um meinen verhaltenen Thrä¬ nen freyen Lauf zu lassen.
Locke von ſeinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte mich, ſie ihm abzuſchneiden. Der Koͤrper lag nackend in ein weißes Betttuch gehuͤllet, große Eisſtuͤcke hatte man in einiger Naͤhe umhergeſtellt, um ihn friſch zu erhalten ſo lange als moͤglich. Friedrich ſchlug das Tuch auseinander, und ich erſtaunte uͤber die goͤttliche Pracht dieſer Glieder. Die Bruſt uͤberaus maͤchtig, breit und gewoͤlbt; Arme und Schenkel voll und ſanft mus¬ kuloͤs; die Fuͤße zierlich und von der reinſten Form; und nirgends am ganzen Koͤrper eine Spur von Fettig¬ keit, oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Menſch lag in großer Schoͤnheit vor mir, und das Entzuͤcken, das ich daruͤber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergeſſen, daß der unſterbliche Geiſt eine ſolche Huͤlle verlaſſen. Ich legte meine Hand auf ſein Herz, — es war uͤberall eine tiefe Stille, — und ich wendete mich abwaͤrts, um meinen verhaltenen Thraͤ¬ nen freyen Lauf zu laſſen.
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Locke von ſeinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte
mich, ſie ihm abzuſchneiden. Der Koͤrper lag nackend
in ein weißes Betttuch gehuͤllet, große Eisſtuͤcke hatte
man in einiger Naͤhe umhergeſtellt, um ihn friſch zu
erhalten ſo lange als moͤglich. Friedrich ſchlug das Tuch
auseinander, und ich erſtaunte uͤber die goͤttliche Pracht
dieſer Glieder. Die Bruſt uͤberaus maͤchtig, breit und
gewoͤlbt; Arme und Schenkel voll und ſanft mus¬
kuloͤs; die Fuͤße zierlich und von der reinſten Form;
und nirgends am ganzen Koͤrper eine Spur von Fettig¬
keit, oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener
Menſch lag in großer Schoͤnheit vor mir, und das
Entzuͤcken, das ich daruͤber empfand, ließ mich auf
Augenblicke vergeſſen, daß der unſterbliche Geiſt eine
ſolche Huͤlle verlaſſen. Ich legte meine Hand auf ſein
Herz, — es war uͤberall eine tiefe Stille, — und ich
wendete mich abwaͤrts, um meinen verhaltenen Thraͤ¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/370>, abgerufen am 24.11.2024.
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