großer Kenner werden, indem es denkbar ist, daß er sich die Kunst und das Wissen eines Meisters vollkom¬ men aneigne, allein in göttlichen Dingen könnte es nur ein Wesen, das dem Höchsten selber gleich wäre. Ja und wenn nun dieses uns solche Geheimnisse überliefern und offenbaren wollte, so würden wir sie nicht zu fassen und nichts damit anzufangen wissen, und wir würden wiederum jenem Unkundigen vor dem Gemälde gleichen, dem der Kenner seine Prämissen, nach denen er urtheilt, durch alles Einreden nicht mitzutheilen im Stande wäre.
In dieser Hinsicht ist es denn schon ganz recht, daß alle Religionen nicht unmittelbar von Gott selber gege¬ ben worden, sondern daß sie, als das Werk vorzügli¬ cher Menschen, für das Bedürfniß und die Faßlichkeit einer großen Masse ihres Gleichen berechnet sind.
Wären sie ein Werk Gottes, so würde sie niemand begreifen; da sie aber ein Werk der Menschen sind, so sprechen sie das Unerforschliche nicht aus.
Die Religion der hochgebildeten alten Griechen kam nicht weiter, als daß sie einzelne Äußerungen des Un¬ erforschlichen durch besondere Gottheiten versinnlichte. Da aber solche Einzelnheiten beschränkte Wesen waren, und im Ganzen des Zusammenhangs eine Lücke blieb, so erfanden sie die Idee des Fatums, das sie über Alle setzten, wodurch denn, da dieses wiederum ein vielseitig Unerforschliches blieb, die Angelegenheit mehr abgethan als abgeschlossen wurde.
großer Kenner werden, indem es denkbar iſt, daß er ſich die Kunſt und das Wiſſen eines Meiſters vollkom¬ men aneigne, allein in goͤttlichen Dingen koͤnnte es nur ein Weſen, das dem Hoͤchſten ſelber gleich waͤre. Ja und wenn nun dieſes uns ſolche Geheimniſſe uͤberliefern und offenbaren wollte, ſo wuͤrden wir ſie nicht zu faſſen und nichts damit anzufangen wiſſen, und wir wuͤrden wiederum jenem Unkundigen vor dem Gemaͤlde gleichen, dem der Kenner ſeine Praͤmiſſen, nach denen er urtheilt, durch alles Einreden nicht mitzutheilen im Stande waͤre.
In dieſer Hinſicht iſt es denn ſchon ganz recht, daß alle Religionen nicht unmittelbar von Gott ſelber gege¬ ben worden, ſondern daß ſie, als das Werk vorzuͤgli¬ cher Menſchen, fuͤr das Beduͤrfniß und die Faßlichkeit einer großen Maſſe ihres Gleichen berechnet ſind.
Waͤren ſie ein Werk Gottes, ſo wuͤrde ſie niemand begreifen; da ſie aber ein Werk der Menſchen ſind, ſo ſprechen ſie das Unerforſchliche nicht aus.
Die Religion der hochgebildeten alten Griechen kam nicht weiter, als daß ſie einzelne Äußerungen des Un¬ erforſchlichen durch beſondere Gottheiten verſinnlichte. Da aber ſolche Einzelnheiten beſchraͤnkte Weſen waren, und im Ganzen des Zuſammenhangs eine Luͤcke blieb, ſo erfanden ſie die Idee des Fatums, das ſie uͤber Alle ſetzten, wodurch denn, da dieſes wiederum ein vielſeitig Unerforſchliches blieb, die Angelegenheit mehr abgethan als abgeſchloſſen wurde.
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großer Kenner werden, indem es denkbar iſt, daß er
ſich die Kunſt und das Wiſſen eines Meiſters vollkom¬
men aneigne, allein in goͤttlichen Dingen koͤnnte es nur
ein Weſen, das dem Hoͤchſten ſelber gleich waͤre. Ja
und wenn nun dieſes uns ſolche Geheimniſſe uͤberliefern
und offenbaren wollte, ſo wuͤrden wir ſie nicht zu faſſen
und nichts damit anzufangen wiſſen, und wir wuͤrden
wiederum jenem Unkundigen vor dem Gemaͤlde gleichen,
dem der Kenner ſeine Praͤmiſſen, nach denen er urtheilt,
durch alles Einreden nicht mitzutheilen im Stande waͤre.
In dieſer Hinſicht iſt es denn ſchon ganz recht, daß
alle Religionen nicht unmittelbar von Gott ſelber gege¬
ben worden, ſondern daß ſie, als das Werk vorzuͤgli¬
cher Menſchen, fuͤr das Beduͤrfniß und die Faßlichkeit
einer großen Maſſe ihres Gleichen berechnet ſind.
Waͤren ſie ein Werk Gottes, ſo wuͤrde ſie niemand
begreifen; da ſie aber ein Werk der Menſchen ſind, ſo
ſprechen ſie das Unerforſchliche nicht aus.
Die Religion der hochgebildeten alten Griechen kam
nicht weiter, als daß ſie einzelne Äußerungen des Un¬
erforſchlichen durch beſondere Gottheiten verſinnlichte.
Da aber ſolche Einzelnheiten beſchraͤnkte Weſen waren,
und im Ganzen des Zuſammenhangs eine Luͤcke blieb,
ſo erfanden ſie die Idee des Fatums, das ſie uͤber Alle
ſetzten, wodurch denn, da dieſes wiederum ein vielſeitig
Unerforſchliches blieb, die Angelegenheit mehr abgethan
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/305>, abgerufen am 23.11.2024.
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