Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Goethe selbst erschien in der Gesellschaft sehr liebens¬
würdig. Er ging bald zu diesem und zu jenem und
schien immer lieber zu hören und seine Gäste reden zu
lassen als selber viel zu reden. Frau v. Goethe kam
oft und hängte und schmiegte sich an ihn und küßte ihn.
Ich hatte ihm vor Kurzem gesagt, daß mir das Theater
so große Freude mache und daß es mich sehr aufheitere,
indem ich mich bloß dem Eindruck der Stücke hingebe
ohne darüber viel zu denken. Dieß schien ihm recht und
für meinen gegenwärtigen Zustand passend zu seyn.

Er trat mit Frau v. Goethe zu mir heran. "Das
ist meine Schwiegertochter, sagte er; kennt Ihr beyden
Euch schon?" Wir sagten ihm, daß wir so eben unsere
Bekanntschaft gemacht. "Das ist auch so ein Theater¬
kind wie Du, Ottilie, sagte er dann, und wir freuten uns
miteinander über unsere beyderseitige Neigung. "Meine
Tochter, fügte er hinzu, versäumt keinen Abend." So
lange gute heitere Stücke gegeben werden, erwiederte
ich, lasse ich es gelten, allein bey schlechten Stücken
muß man auch etwas aushalten. "Das ist eben recht,
erwiederte Goethe, daß man nicht fort kann und ge¬
zwungen ist auch das Schlechte zu hören und zu sehen.
Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durch¬
drungen und kommt dadurch zu einer desto besseren Ein¬
sicht des Guten. Beym Lesen ist das nicht so, da wirft
man das Buch aus den Händen, wenn es einem nicht
gefällt, aber im Theater muß man aushalten." Ich

Goethe ſelbſt erſchien in der Geſellſchaft ſehr liebens¬
wuͤrdig. Er ging bald zu dieſem und zu jenem und
ſchien immer lieber zu hoͤren und ſeine Gaͤſte reden zu
laſſen als ſelber viel zu reden. Frau v. Goethe kam
oft und haͤngte und ſchmiegte ſich an ihn und kuͤßte ihn.
Ich hatte ihm vor Kurzem geſagt, daß mir das Theater
ſo große Freude mache und daß es mich ſehr aufheitere,
indem ich mich bloß dem Eindruck der Stuͤcke hingebe
ohne daruͤber viel zu denken. Dieß ſchien ihm recht und
fuͤr meinen gegenwaͤrtigen Zuſtand paſſend zu ſeyn.

Er trat mit Frau v. Goethe zu mir heran. „Das
iſt meine Schwiegertochter, ſagte er; kennt Ihr beyden
Euch ſchon?“ Wir ſagten ihm, daß wir ſo eben unſere
Bekanntſchaft gemacht. „Das iſt auch ſo ein Theater¬
kind wie Du, Ottilie, ſagte er dann, und wir freuten uns
miteinander uͤber unſere beyderſeitige Neigung. „Meine
Tochter, fuͤgte er hinzu, verſaͤumt keinen Abend.“ So
lange gute heitere Stuͤcke gegeben werden, erwiederte
ich, laſſe ich es gelten, allein bey ſchlechten Stuͤcken
muß man auch etwas aushalten. „Das iſt eben recht,
erwiederte Goethe, daß man nicht fort kann und ge¬
zwungen iſt auch das Schlechte zu hoͤren und zu ſehen.
Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durch¬
drungen und kommt dadurch zu einer deſto beſſeren Ein¬
ſicht des Guten. Beym Leſen iſt das nicht ſo, da wirft
man das Buch aus den Haͤnden, wenn es einem nicht
gefaͤllt, aber im Theater muß man aushalten.“ Ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <pb facs="#f0081" n="61"/>
          <p>Goethe &#x017F;elb&#x017F;t er&#x017F;chien in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;ehr liebens¬<lb/>
wu&#x0364;rdig. Er ging bald zu die&#x017F;em und zu jenem und<lb/>
&#x017F;chien immer lieber zu ho&#x0364;ren und &#x017F;eine Ga&#x0364;&#x017F;te reden zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en als &#x017F;elber viel zu reden. Frau v. Goethe kam<lb/>
oft und ha&#x0364;ngte und &#x017F;chmiegte &#x017F;ich an ihn und ku&#x0364;ßte ihn.<lb/>
Ich hatte ihm vor Kurzem ge&#x017F;agt, daß mir das Theater<lb/>
&#x017F;o große Freude mache und daß es mich &#x017F;ehr aufheitere,<lb/>
indem ich mich bloß dem Eindruck der Stu&#x0364;cke hingebe<lb/>
ohne daru&#x0364;ber viel zu denken. Dieß &#x017F;chien ihm recht und<lb/>
fu&#x0364;r meinen gegenwa&#x0364;rtigen Zu&#x017F;tand pa&#x017F;&#x017F;end zu &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Er trat mit Frau v. Goethe zu mir heran. &#x201E;Das<lb/>
i&#x017F;t meine Schwiegertochter, &#x017F;agte er; kennt Ihr beyden<lb/>
Euch &#x017F;chon?&#x201C; Wir &#x017F;agten ihm, daß wir &#x017F;o eben un&#x017F;ere<lb/>
Bekannt&#x017F;chaft gemacht. &#x201E;Das i&#x017F;t auch &#x017F;o ein Theater¬<lb/>
kind wie Du, Ottilie, &#x017F;agte er dann, und wir freuten uns<lb/>
miteinander u&#x0364;ber un&#x017F;ere beyder&#x017F;eitige Neigung. &#x201E;Meine<lb/>
Tochter, fu&#x0364;gte er hinzu, ver&#x017F;a&#x0364;umt keinen Abend.&#x201C; So<lb/>
lange gute heitere Stu&#x0364;cke gegeben werden, erwiederte<lb/>
ich, la&#x017F;&#x017F;e ich es gelten, allein bey &#x017F;chlechten Stu&#x0364;cken<lb/>
muß man auch etwas aushalten. &#x201E;Das i&#x017F;t eben recht,<lb/>
erwiederte Goethe, daß man nicht fort kann und ge¬<lb/>
zwungen i&#x017F;t auch das Schlechte zu ho&#x0364;ren und zu &#x017F;ehen.<lb/>
Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durch¬<lb/>
drungen und kommt dadurch zu einer de&#x017F;to be&#x017F;&#x017F;eren Ein¬<lb/>
&#x017F;icht des Guten. Beym Le&#x017F;en i&#x017F;t das nicht &#x017F;o, da wirft<lb/>
man das Buch aus den Ha&#x0364;nden, wenn es einem nicht<lb/>
gefa&#x0364;llt, aber im Theater muß man aushalten.&#x201C; Ich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0081] Goethe ſelbſt erſchien in der Geſellſchaft ſehr liebens¬ wuͤrdig. Er ging bald zu dieſem und zu jenem und ſchien immer lieber zu hoͤren und ſeine Gaͤſte reden zu laſſen als ſelber viel zu reden. Frau v. Goethe kam oft und haͤngte und ſchmiegte ſich an ihn und kuͤßte ihn. Ich hatte ihm vor Kurzem geſagt, daß mir das Theater ſo große Freude mache und daß es mich ſehr aufheitere, indem ich mich bloß dem Eindruck der Stuͤcke hingebe ohne daruͤber viel zu denken. Dieß ſchien ihm recht und fuͤr meinen gegenwaͤrtigen Zuſtand paſſend zu ſeyn. Er trat mit Frau v. Goethe zu mir heran. „Das iſt meine Schwiegertochter, ſagte er; kennt Ihr beyden Euch ſchon?“ Wir ſagten ihm, daß wir ſo eben unſere Bekanntſchaft gemacht. „Das iſt auch ſo ein Theater¬ kind wie Du, Ottilie, ſagte er dann, und wir freuten uns miteinander uͤber unſere beyderſeitige Neigung. „Meine Tochter, fuͤgte er hinzu, verſaͤumt keinen Abend.“ So lange gute heitere Stuͤcke gegeben werden, erwiederte ich, laſſe ich es gelten, allein bey ſchlechten Stuͤcken muß man auch etwas aushalten. „Das iſt eben recht, erwiederte Goethe, daß man nicht fort kann und ge¬ zwungen iſt auch das Schlechte zu hoͤren und zu ſehen. Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durch¬ drungen und kommt dadurch zu einer deſto beſſeren Ein¬ ſicht des Guten. Beym Leſen iſt das nicht ſo, da wirft man das Buch aus den Haͤnden, wenn es einem nicht gefaͤllt, aber im Theater muß man aushalten.“ Ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/81
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/81>, abgerufen am 23.11.2024.