Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

"Sie sehen, daß dieser Lehre nichts fehlt und daß
wir mit allen unsern Systemen nicht weiter sind und
daß überhaupt niemand weiter gelangen kann."

Ich werde dadurch, sagte ich, an die Griechen erin¬
nert, deren philosophische Erziehungsweise eine ähnliche
gewesen seyn muß, wie uns dieses ihre Tragödie be¬
weiset, deren Wesen im Verlauf der Handlung auch
ganz und gar auf dem Widerspruch beruhet, indem nie¬
mand der redenden Personen etwas behaupten kann,
wovon der Andere nicht eben so klug das Gegentheil
zu sagen wüßte.

"Sie haben vollkommen Recht, sagte Goethe; auch
fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuschauer oder Leser
erweckt wird; so wie wir denn am Schluß durch das
Schicksal zur Gewißheit gelangen, welches sich an das
Sittliche anschließt und dessen Partey führt."

Wir standen von Tisch auf und Goethe nahm mich
mit hinab in den Garten, um unsere Gespräche fortzu¬
setzen.

An Lessing, sagte ich, ist es merkwürdig, daß er in
seinen theoretischen Schriften, z. B. im Laokoon, nie
geradezu auf Resultate losgeht, sondern uns immer erst
jenen philosophischen Weg durch Meinung, Gegen¬
meinung und Zweifel herumführt, ehe er uns endlich
zu einer Art von Gewißheit gelangen läßt. Wir sehen
mehr die Operation des Denkens und Findens, als
daß wir große Ansichten und große Wahrheiten erhiel¬

„Sie ſehen, daß dieſer Lehre nichts fehlt und daß
wir mit allen unſern Syſtemen nicht weiter ſind und
daß uͤberhaupt niemand weiter gelangen kann.“

Ich werde dadurch, ſagte ich, an die Griechen erin¬
nert, deren philoſophiſche Erziehungsweiſe eine aͤhnliche
geweſen ſeyn muß, wie uns dieſes ihre Tragoͤdie be¬
weiſet, deren Weſen im Verlauf der Handlung auch
ganz und gar auf dem Widerſpruch beruhet, indem nie¬
mand der redenden Perſonen etwas behaupten kann,
wovon der Andere nicht eben ſo klug das Gegentheil
zu ſagen wuͤßte.

„Sie haben vollkommen Recht, ſagte Goethe; auch
fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuſchauer oder Leſer
erweckt wird; ſo wie wir denn am Schluß durch das
Schickſal zur Gewißheit gelangen, welches ſich an das
Sittliche anſchließt und deſſen Partey fuͤhrt.“

Wir ſtanden von Tiſch auf und Goethe nahm mich
mit hinab in den Garten, um unſere Geſpraͤche fortzu¬
ſetzen.

An Leſſing, ſagte ich, iſt es merkwuͤrdig, daß er in
ſeinen theoretiſchen Schriften, z. B. im Laokoon, nie
geradezu auf Reſultate losgeht, ſondern uns immer erſt
jenen philoſophiſchen Weg durch Meinung, Gegen¬
meinung und Zweifel herumfuͤhrt, ehe er uns endlich
zu einer Art von Gewißheit gelangen laͤßt. Wir ſehen
mehr die Operation des Denkens und Findens, als
daß wir große Anſichten und große Wahrheiten erhiel¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0371" n="351"/>
          <p>&#x201E;Sie &#x017F;ehen, daß die&#x017F;er Lehre nichts fehlt und daß<lb/>
wir mit allen un&#x017F;ern Sy&#x017F;temen nicht weiter &#x017F;ind und<lb/>
daß u&#x0364;berhaupt niemand weiter gelangen kann.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich werde dadurch, &#x017F;agte ich, an die Griechen erin¬<lb/>
nert, deren philo&#x017F;ophi&#x017F;che Erziehungswei&#x017F;e eine a&#x0364;hnliche<lb/>
gewe&#x017F;en &#x017F;eyn muß, wie uns die&#x017F;es ihre Trago&#x0364;die be¬<lb/>
wei&#x017F;et, deren We&#x017F;en im Verlauf der Handlung auch<lb/>
ganz und gar auf dem Wider&#x017F;pruch beruhet, indem nie¬<lb/>
mand der redenden Per&#x017F;onen etwas behaupten kann,<lb/>
wovon der Andere nicht eben &#x017F;o klug das Gegentheil<lb/>
zu &#x017F;agen wu&#x0364;ßte.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sie haben vollkommen Recht, &#x017F;agte Goethe; auch<lb/>
fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zu&#x017F;chauer oder Le&#x017F;er<lb/>
erweckt wird; &#x017F;o wie wir denn am Schluß durch das<lb/>
Schick&#x017F;al zur Gewißheit gelangen, welches &#x017F;ich an das<lb/>
Sittliche an&#x017F;chließt und de&#x017F;&#x017F;en Partey fu&#x0364;hrt.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;tanden von Ti&#x017F;ch auf und Goethe nahm mich<lb/>
mit hinab in den Garten, um un&#x017F;ere Ge&#x017F;pra&#x0364;che fortzu¬<lb/>
&#x017F;etzen.</p><lb/>
          <p>An Le&#x017F;&#x017F;ing, &#x017F;agte ich, i&#x017F;t es merkwu&#x0364;rdig, daß er in<lb/>
&#x017F;einen theoreti&#x017F;chen Schriften, z. B. im <hi rendition="#g">Laokoon</hi>, nie<lb/>
geradezu auf Re&#x017F;ultate losgeht, &#x017F;ondern uns immer er&#x017F;t<lb/>
jenen philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Weg durch Meinung, Gegen¬<lb/>
meinung und Zweifel herumfu&#x0364;hrt, ehe er uns endlich<lb/>
zu einer Art von Gewißheit gelangen la&#x0364;ßt. Wir &#x017F;ehen<lb/>
mehr die Operation des Denkens und Findens, als<lb/>
daß wir große An&#x017F;ichten und große Wahrheiten erhiel¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[351/0371] „Sie ſehen, daß dieſer Lehre nichts fehlt und daß wir mit allen unſern Syſtemen nicht weiter ſind und daß uͤberhaupt niemand weiter gelangen kann.“ Ich werde dadurch, ſagte ich, an die Griechen erin¬ nert, deren philoſophiſche Erziehungsweiſe eine aͤhnliche geweſen ſeyn muß, wie uns dieſes ihre Tragoͤdie be¬ weiſet, deren Weſen im Verlauf der Handlung auch ganz und gar auf dem Widerſpruch beruhet, indem nie¬ mand der redenden Perſonen etwas behaupten kann, wovon der Andere nicht eben ſo klug das Gegentheil zu ſagen wuͤßte. „Sie haben vollkommen Recht, ſagte Goethe; auch fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuſchauer oder Leſer erweckt wird; ſo wie wir denn am Schluß durch das Schickſal zur Gewißheit gelangen, welches ſich an das Sittliche anſchließt und deſſen Partey fuͤhrt.“ Wir ſtanden von Tiſch auf und Goethe nahm mich mit hinab in den Garten, um unſere Geſpraͤche fortzu¬ ſetzen. An Leſſing, ſagte ich, iſt es merkwuͤrdig, daß er in ſeinen theoretiſchen Schriften, z. B. im Laokoon, nie geradezu auf Reſultate losgeht, ſondern uns immer erſt jenen philoſophiſchen Weg durch Meinung, Gegen¬ meinung und Zweifel herumfuͤhrt, ehe er uns endlich zu einer Art von Gewißheit gelangen laͤßt. Wir ſehen mehr die Operation des Denkens und Findens, als daß wir große Anſichten und große Wahrheiten erhiel¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/371
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/371>, abgerufen am 16.07.2024.