gestorben, sagte Goethe, und man hat jetzt eine Samm¬ lung seiner nachgelassenen Schriften und Briefe heraus¬ gegeben. In seinen philosophischen Untersuchungen, die er in der Form der platonischen Dialoge giebt, ist er nicht so glücklich; aber seine Briefe sind vortrefflich. In einem derselben schreibt er an Tieck über die Wahl¬ verwandtschaften, und diesen muß ich Ihnen vorlesen, denn es ist nicht leicht etwas Besseres über jenen Roman gesagt worden."
Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor und wir besprachen sie punctweise, indem wir die von einem großen Character zeugenden Ansichten und die Consequenz seiner Ableitungen und Folgerungen bewun¬ derten. Obgleich Solger zugestand, daß das Factum in den Wahlverwandtschaften aus der Natur aller Cha¬ ractere hervorgehe, so tadelte er doch den Character des Eduard.
"Ich kann ihm nicht verdenken, sagte Goethe, daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn selber nicht leiden, aber ich mußte ihn so machen, um das Factum hervorzubringen. Er hat übrigens viele Wahr¬ heit, denn man findet in den höheren Ständen Leute genug, bey denen, ganz wie bey ihm, der Eigensinn an die Stelle des Characters tritt."
Hoch vor allen stellte Solger den Architekten, denn wenn alle übrigen Personen des Romans sich lie¬ bend und schwach zeigten, so sey er der Einzige, der
geſtorben, ſagte Goethe, und man hat jetzt eine Samm¬ lung ſeiner nachgelaſſenen Schriften und Briefe heraus¬ gegeben. In ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen, die er in der Form der platoniſchen Dialoge giebt, iſt er nicht ſo gluͤcklich; aber ſeine Briefe ſind vortrefflich. In einem derſelben ſchreibt er an Tieck uͤber die Wahl¬ verwandtſchaften, und dieſen muß ich Ihnen vorleſen, denn es iſt nicht leicht etwas Beſſeres uͤber jenen Roman geſagt worden.“
Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor und wir beſprachen ſie punctweiſe, indem wir die von einem großen Character zeugenden Anſichten und die Conſequenz ſeiner Ableitungen und Folgerungen bewun¬ derten. Obgleich Solger zugeſtand, daß das Factum in den Wahlverwandtſchaften aus der Natur aller Cha¬ ractere hervorgehe, ſo tadelte er doch den Character des Eduard.
„Ich kann ihm nicht verdenken, ſagte Goethe, daß er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn ſelber nicht leiden, aber ich mußte ihn ſo machen, um das Factum hervorzubringen. Er hat uͤbrigens viele Wahr¬ heit, denn man findet in den hoͤheren Staͤnden Leute genug, bey denen, ganz wie bey ihm, der Eigenſinn an die Stelle des Characters tritt.“
Hoch vor allen ſtellte Solger den Architekten, denn wenn alle uͤbrigen Perſonen des Romans ſich lie¬ bend und ſchwach zeigten, ſo ſey er der Einzige, der
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geſtorben, ſagte Goethe, und man hat jetzt eine Samm¬
lung ſeiner nachgelaſſenen Schriften und Briefe heraus¬
gegeben. In ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen, die
er in der Form der platoniſchen Dialoge giebt, iſt er
nicht ſo gluͤcklich; aber ſeine Briefe ſind vortrefflich.
In einem derſelben ſchreibt er an Tieck uͤber die Wahl¬
verwandtſchaften, und dieſen muß ich Ihnen vorleſen,
denn es iſt nicht leicht etwas Beſſeres uͤber jenen Roman
geſagt worden.“
Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor und
wir beſprachen ſie punctweiſe, indem wir die von
einem großen Character zeugenden Anſichten und die
Conſequenz ſeiner Ableitungen und Folgerungen bewun¬
derten. Obgleich Solger zugeſtand, daß das Factum
in den Wahlverwandtſchaften aus der Natur aller Cha¬
ractere hervorgehe, ſo tadelte er doch den Character des
Eduard.
„Ich kann ihm nicht verdenken, ſagte Goethe, daß
er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn ſelber
nicht leiden, aber ich mußte ihn ſo machen, um das
Factum hervorzubringen. Er hat uͤbrigens viele Wahr¬
heit, denn man findet in den hoͤheren Staͤnden Leute
genug, bey denen, ganz wie bey ihm, der Eigenſinn
an die Stelle des Characters tritt.“
Hoch vor allen ſtellte Solger den Architekten,
denn wenn alle uͤbrigen Perſonen des Romans ſich lie¬
bend und ſchwach zeigten, ſo ſey er der Einzige, der
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/331>, abgerufen am 24.11.2024.
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