nach und nach überzeugt, das Phänomen begriffen zu haben.
Heute bey Tisch sagte ich Goethen, daß ich das Räthsel gelöst. "Es wäre viel, sagte Goethe; nach Tisch sollen Sie es mir machen." Ich will es lieber schreiben, sagte ich, denn zu einer mündlichen Auseinandersetzung fehlen mir leicht die richtigen Worte. "Sie mögen es später schreiben, sagte Goethe, aber heute sollen Sie es mir erst vor meinen Augen machen und mir mündlich demonstriren, damit ich sehe, ob Sie im Rechten sind,"
Nach Tisch, wo es völlig helle war, fragte Goethe: "Können Sie jetzt das Experiment machen?" Nein, sagte ich. "Warum nicht?" fragte Goethe. Es ist noch zu helle, antwortete ich; es muß erst ein wenig Dämmerung eintreten, damit das Kerzenlicht einen ent¬ schiedenen Schatten werfe; doch muß es noch helle ge¬ nug seyn, damit das Tageslicht diesen erleuchten könne. "Hm! sagte Goethe, das ist nicht unrecht."
Der Anfang der Abenddämmerung trat endlich ein und ich sagte Goethen, daß es jetzt Zeit sey. Er zün¬ dete die Wachskerze an und gab mir ein Blatt weißes Papier und ein Stäbchen. "Nun experimentiren und dociren Sie," sagte er.
Ich stellte das Licht auf den Tisch in die Nähe des Fensters, legte das Blatt Papier in die Nähe des Lichtes, und als ich das Stäbchen auf die Mitte des Papiers zwischen Tages- und Kerzen-Licht setzte, war
nach und nach uͤberzeugt, das Phaͤnomen begriffen zu haben.
Heute bey Tiſch ſagte ich Goethen, daß ich das Raͤthſel geloͤſt. „Es waͤre viel, ſagte Goethe; nach Tiſch ſollen Sie es mir machen.“ Ich will es lieber ſchreiben, ſagte ich, denn zu einer muͤndlichen Auseinanderſetzung fehlen mir leicht die richtigen Worte. „Sie moͤgen es ſpaͤter ſchreiben, ſagte Goethe, aber heute ſollen Sie es mir erſt vor meinen Augen machen und mir muͤndlich demonſtriren, damit ich ſehe, ob Sie im Rechten ſind,“
Nach Tiſch, wo es voͤllig helle war, fragte Goethe: „Koͤnnen Sie jetzt das Experiment machen?“ Nein, ſagte ich. „Warum nicht?“ fragte Goethe. Es iſt noch zu helle, antwortete ich; es muß erſt ein wenig Daͤmmerung eintreten, damit das Kerzenlicht einen ent¬ ſchiedenen Schatten werfe; doch muß es noch helle ge¬ nug ſeyn, damit das Tageslicht dieſen erleuchten koͤnne. „Hm! ſagte Goethe, das iſt nicht unrecht.“
Der Anfang der Abenddaͤmmerung trat endlich ein und ich ſagte Goethen, daß es jetzt Zeit ſey. Er zuͤn¬ dete die Wachskerze an und gab mir ein Blatt weißes Papier und ein Staͤbchen. „Nun experimentiren und dociren Sie,“ ſagte er.
Ich ſtellte das Licht auf den Tiſch in die Naͤhe des Fenſters, legte das Blatt Papier in die Naͤhe des Lichtes, und als ich das Staͤbchen auf die Mitte des Papiers zwiſchen Tages- und Kerzen-Licht ſetzte, war
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nach und nach uͤberzeugt, das Phaͤnomen begriffen zu
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Heute bey Tiſch ſagte ich Goethen, daß ich das
Raͤthſel geloͤſt. „Es waͤre viel, ſagte Goethe; nach Tiſch
ſollen Sie es mir machen.“ Ich will es lieber ſchreiben,
ſagte ich, denn zu einer muͤndlichen Auseinanderſetzung
fehlen mir leicht die richtigen Worte. „Sie moͤgen es
ſpaͤter ſchreiben, ſagte Goethe, aber heute ſollen Sie es
mir erſt vor meinen Augen machen und mir muͤndlich
demonſtriren, damit ich ſehe, ob Sie im Rechten ſind,“
Nach Tiſch, wo es voͤllig helle war, fragte Goethe:
„Koͤnnen Sie jetzt das Experiment machen?“ Nein,
ſagte ich. „Warum nicht?“ fragte Goethe. Es iſt
noch zu helle, antwortete ich; es muß erſt ein wenig
Daͤmmerung eintreten, damit das Kerzenlicht einen ent¬
ſchiedenen Schatten werfe; doch muß es noch helle ge¬
nug ſeyn, damit das Tageslicht dieſen erleuchten koͤnne.
„Hm! ſagte Goethe, das iſt nicht unrecht.“
Der Anfang der Abenddaͤmmerung trat endlich ein
und ich ſagte Goethen, daß es jetzt Zeit ſey. Er zuͤn¬
dete die Wachskerze an und gab mir ein Blatt weißes
Papier und ein Staͤbchen. „Nun experimentiren und
dociren Sie,“ ſagte er.
Ich ſtellte das Licht auf den Tiſch in die Naͤhe
des Fenſters, legte das Blatt Papier in die Naͤhe des
Lichtes, und als ich das Staͤbchen auf die Mitte des
Papiers zwiſchen Tages- und Kerzen-Licht ſetzte, war
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/290>, abgerufen am 23.11.2024.
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