Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß,
welches von beyden es wählen soll.

"Ja, sagte Goethe, das ist ein Bildchen! da ist
Geist, Naivetät, Sinnlichkeit, alles bey einander. Und
der heilige Gegenstand ist allgemein menschlich geworden
und gilt als Symbol für eine Lebensstufe, die wir alle
durchmachen. Ein solches Bild ist ewig, weil es in
die frühesten Zeiten der Menschheit zurück- und in die
künftigsten vorwärts greift. Wollte man dagegen den
Christus malen, wie er die Kindlein zu sich kommen
läßt, so wäre das ein Bild, welches gar nichts zu sa¬
gen hätte, wenigstens nichts von Bedeutung."

"Ich habe nun, fuhr Goethe fort, der deutschen
Malerey über funfzig Jahre zugesehen, ja nicht bloß
zugesehen, sondern auch von meiner Seite einzuwirken
gesucht, und kann jetzt so viel sagen, daß, so wie alles
jetzt steht, wenig zu erwarten ist. Es muß ein großes
Talent kommen, welches sich alles Gute der Zeit sogleich
aneignet und dadurch alles übertrifft. Die Mittel sind
alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben
wir doch jetzt sogar auch die Phidiasse vor Augen, wor¬
an in unserer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt
jetzt, wie gesagt, weiter nichts als ein großes Talent,
und dieses, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht
schon in der Wiege und Sie können seinen Glanz noch
erleben."


hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß,
welches von beyden es waͤhlen ſoll.

„Ja, ſagte Goethe, das iſt ein Bildchen! da iſt
Geiſt, Naivetaͤt, Sinnlichkeit, alles bey einander. Und
der heilige Gegenſtand iſt allgemein menſchlich geworden
und gilt als Symbol fuͤr eine Lebensſtufe, die wir alle
durchmachen. Ein ſolches Bild iſt ewig, weil es in
die fruͤheſten Zeiten der Menſchheit zuruͤck- und in die
kuͤnftigſten vorwaͤrts greift. Wollte man dagegen den
Chriſtus malen, wie er die Kindlein zu ſich kommen
laͤßt, ſo waͤre das ein Bild, welches gar nichts zu ſa¬
gen haͤtte, wenigſtens nichts von Bedeutung.“

„Ich habe nun, fuhr Goethe fort, der deutſchen
Malerey uͤber funfzig Jahre zugeſehen, ja nicht bloß
zugeſehen, ſondern auch von meiner Seite einzuwirken
geſucht, und kann jetzt ſo viel ſagen, daß, ſo wie alles
jetzt ſteht, wenig zu erwarten iſt. Es muß ein großes
Talent kommen, welches ſich alles Gute der Zeit ſogleich
aneignet und dadurch alles uͤbertrifft. Die Mittel ſind
alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben
wir doch jetzt ſogar auch die Phidiaſſe vor Augen, wor¬
an in unſerer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt
jetzt, wie geſagt, weiter nichts als ein großes Talent,
und dieſes, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht
ſchon in der Wiege und Sie koͤnnen ſeinen Glanz noch
erleben.“


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0283" n="263"/>
hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß,<lb/>
welches von beyden es wa&#x0364;hlen &#x017F;oll.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ja, &#x017F;agte Goethe, das i&#x017F;t ein Bildchen! da i&#x017F;t<lb/>
Gei&#x017F;t, Naiveta&#x0364;t, Sinnlichkeit, alles bey einander. Und<lb/>
der heilige Gegen&#x017F;tand i&#x017F;t allgemein men&#x017F;chlich geworden<lb/>
und gilt als Symbol fu&#x0364;r eine Lebens&#x017F;tufe, die wir alle<lb/>
durchmachen. Ein &#x017F;olches Bild i&#x017F;t ewig, weil es in<lb/>
die fru&#x0364;he&#x017F;ten Zeiten der Men&#x017F;chheit zuru&#x0364;ck- und in die<lb/>
ku&#x0364;nftig&#x017F;ten vorwa&#x0364;rts greift. Wollte man dagegen den<lb/>
Chri&#x017F;tus malen, wie er die Kindlein zu &#x017F;ich kommen<lb/>
la&#x0364;ßt, &#x017F;o wa&#x0364;re das ein Bild, welches gar nichts zu &#x017F;<lb/>
gen ha&#x0364;tte, wenig&#x017F;tens nichts von Bedeutung.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ich habe nun, fuhr Goethe fort, der deut&#x017F;chen<lb/>
Malerey u&#x0364;ber funfzig Jahre zuge&#x017F;ehen, ja nicht bloß<lb/>
zuge&#x017F;ehen, &#x017F;ondern auch von meiner Seite einzuwirken<lb/>
ge&#x017F;ucht, und kann jetzt &#x017F;o viel &#x017F;agen, daß, &#x017F;o wie alles<lb/>
jetzt &#x017F;teht, wenig zu erwarten i&#x017F;t. Es muß ein großes<lb/>
Talent kommen, welches &#x017F;ich alles Gute der Zeit &#x017F;ogleich<lb/>
aneignet und dadurch alles u&#x0364;bertrifft. Die Mittel &#x017F;ind<lb/>
alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben<lb/>
wir doch jetzt &#x017F;ogar auch die Phidia&#x017F;&#x017F;e vor Augen, wor¬<lb/>
an in un&#x017F;erer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt<lb/>
jetzt, wie ge&#x017F;agt, weiter nichts als ein großes Talent,<lb/>
und die&#x017F;es, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht<lb/>
&#x017F;chon in der Wiege und Sie ko&#x0364;nnen &#x017F;einen Glanz noch<lb/>
erleben.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[263/0283] hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß, welches von beyden es waͤhlen ſoll. „Ja, ſagte Goethe, das iſt ein Bildchen! da iſt Geiſt, Naivetaͤt, Sinnlichkeit, alles bey einander. Und der heilige Gegenſtand iſt allgemein menſchlich geworden und gilt als Symbol fuͤr eine Lebensſtufe, die wir alle durchmachen. Ein ſolches Bild iſt ewig, weil es in die fruͤheſten Zeiten der Menſchheit zuruͤck- und in die kuͤnftigſten vorwaͤrts greift. Wollte man dagegen den Chriſtus malen, wie er die Kindlein zu ſich kommen laͤßt, ſo waͤre das ein Bild, welches gar nichts zu ſa¬ gen haͤtte, wenigſtens nichts von Bedeutung.“ „Ich habe nun, fuhr Goethe fort, der deutſchen Malerey uͤber funfzig Jahre zugeſehen, ja nicht bloß zugeſehen, ſondern auch von meiner Seite einzuwirken geſucht, und kann jetzt ſo viel ſagen, daß, ſo wie alles jetzt ſteht, wenig zu erwarten iſt. Es muß ein großes Talent kommen, welches ſich alles Gute der Zeit ſogleich aneignet und dadurch alles uͤbertrifft. Die Mittel ſind alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben wir doch jetzt ſogar auch die Phidiaſſe vor Augen, wor¬ an in unſerer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt jetzt, wie geſagt, weiter nichts als ein großes Talent, und dieſes, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht ſchon in der Wiege und Sie koͤnnen ſeinen Glanz noch erleben.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/283
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/283>, abgerufen am 23.11.2024.