"Ich bin aufrichtig gegen ihn gewesen, sagte Goethe, und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn an¬ geregt haben, so ist das ein sehr gutes Zeichen. Er ist ein entschiedenes Talent, daran ist kein Zweifel, allein er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit, an der Subjectivität, und davon möchte ich ihn heilen. Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu versuchen. Schildern Sie mir, sagte ich, Ihre Rückkehr nach Hamburg. Dazu war er nun sogleich bereit, und fing auf der Stelle in wohlklingenden Versen zu sprechen an. Ich mußte ihn bewundern, allein ich konnte ihn nicht loben. Nicht die Rückkehr nach Hamburg schil¬ derte er mir, sondern nur die Empfindungen der Rück¬ kehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freun¬ den, und sein Gedicht konnte eben so gut für eine Rück¬ kehr nach Merseburg und Jena als für eine Rückkehr nach Hamburg gelten. Was ist aber Hamburg für eine ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch ein reiches Feld für die speciellesten Schilderungen bot sich ihm dar, wenn er das Object gehörig zu ergreifen gewußt und gewagt hätte!"
Ich bemerkte, daß das Publicum an solcher subjec¬ tiven Richtung Schuld sey, indem es allen Gefühls¬ sachen einen entschiedenen Beyfall schenke.
"Mag seyn, sagte Goethe, allein wenn man dem Publicum das Bessere giebt, so ist es noch zufriedener. Ich bin gewiß, wenn es einem improvisirenden Talent,
„Ich bin aufrichtig gegen ihn geweſen, ſagte Goethe, und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn an¬ geregt haben, ſo iſt das ein ſehr gutes Zeichen. Er iſt ein entſchiedenes Talent, daran iſt kein Zweifel, allein er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit, an der Subjectivitaͤt, und davon moͤchte ich ihn heilen. Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu verſuchen. Schildern Sie mir, ſagte ich, Ihre Ruͤckkehr nach Hamburg. Dazu war er nun ſogleich bereit, und fing auf der Stelle in wohlklingenden Verſen zu ſprechen an. Ich mußte ihn bewundern, allein ich konnte ihn nicht loben. Nicht die Ruͤckkehr nach Hamburg ſchil¬ derte er mir, ſondern nur die Empfindungen der Ruͤck¬ kehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freun¬ den, und ſein Gedicht konnte eben ſo gut fuͤr eine Ruͤck¬ kehr nach Merſeburg und Jena als fuͤr eine Ruͤckkehr nach Hamburg gelten. Was iſt aber Hamburg fuͤr eine ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch ein reiches Feld fuͤr die ſpecielleſten Schilderungen bot ſich ihm dar, wenn er das Object gehoͤrig zu ergreifen gewußt und gewagt haͤtte!“
Ich bemerkte, daß das Publicum an ſolcher ſubjec¬ tiven Richtung Schuld ſey, indem es allen Gefuͤhls¬ ſachen einen entſchiedenen Beyfall ſchenke.
„Mag ſeyn, ſagte Goethe, allein wenn man dem Publicum das Beſſere giebt, ſo iſt es noch zufriedener. Ich bin gewiß, wenn es einem improviſirenden Talent,
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„Ich bin aufrichtig gegen ihn geweſen, ſagte Goethe,
und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn an¬
geregt haben, ſo iſt das ein ſehr gutes Zeichen. Er iſt
ein entſchiedenes Talent, daran iſt kein Zweifel, allein
er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit,
an der Subjectivitaͤt, und davon moͤchte ich ihn heilen.
Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu verſuchen.
Schildern Sie mir, ſagte ich, Ihre Ruͤckkehr nach
Hamburg. Dazu war er nun ſogleich bereit, und fing
auf der Stelle in wohlklingenden Verſen zu ſprechen
an. Ich mußte ihn bewundern, allein ich konnte ihn
nicht loben. Nicht die Ruͤckkehr nach Hamburg ſchil¬
derte er mir, ſondern nur die Empfindungen der Ruͤck¬
kehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freun¬
den, und ſein Gedicht konnte eben ſo gut fuͤr eine Ruͤck¬
kehr nach Merſeburg und Jena als fuͤr eine Ruͤckkehr
nach Hamburg gelten. Was iſt aber Hamburg fuͤr eine
ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch ein reiches
Feld fuͤr die ſpecielleſten Schilderungen bot ſich ihm dar,
wenn er das Object gehoͤrig zu ergreifen gewußt und
gewagt haͤtte!“
Ich bemerkte, daß das Publicum an ſolcher ſubjec¬
tiven Richtung Schuld ſey, indem es allen Gefuͤhls¬
ſachen einen entſchiedenen Beyfall ſchenke.
„Mag ſeyn, ſagte Goethe, allein wenn man dem
Publicum das Beſſere giebt, ſo iſt es noch zufriedener.
Ich bin gewiß, wenn es einem improviſirenden Talent,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/258>, abgerufen am 21.11.2024.
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