kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber er las seinen Cicero in der französischen Übersetzung eben so gut als wir andern in der Ursprache."
Dann das Gespräch auf das Theater wendend fragte Goethe Herrn H., ob er es viel besuche. Ich besuche das Theater jeden Abend, antwortete dieser, und ich finde, daß der Gewinn für das Verstehen der Sprache sehr groß ist. "Es ist merkwürdig, erwiederte Goethe, daß das Ohr, und überall das Vermögen des Verstehens dem des Sprechens voraufeilt, so daß einer bald sehr gut alles verstehen, aber keinesweges alles ausdrücken kann." Ich finde täglich, entgegnete Herr H., daß diese Bemerkung sehr wahr ist; denn ich verstehe sehr gut alles was gesprochen wird, auch sehr gut alles was ich lese, ja ich fühle sogar, wenn einer im Deut¬ schen sich nicht richtig ausdrücket. Allein wenn ich spreche, so stockt es und ich weiß nicht recht zu sagen was ich möchte. Eine leichte Conversation bey Hofe, ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beym Tanz und dergleichen gelingt mir schon. Will ich aber im Deutschen über einen höheren Gegenstand meine Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigenthümliches und Geistreiches sagen, so stockt es und ich kann nicht fort. "Da trösten und beruhigen Sie sich nur, erwie¬ derte Goethe, denn dergleichen Ungewöhnliches auszu¬ drücken wird uns wohl in unserer eigenen Muttersprache schwer."
kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber er las ſeinen Cicero in der franzoͤſiſchen Überſetzung eben ſo gut als wir andern in der Urſprache.“
Dann das Geſpraͤch auf das Theater wendend fragte Goethe Herrn H., ob er es viel beſuche. Ich beſuche das Theater jeden Abend, antwortete dieſer, und ich finde, daß der Gewinn fuͤr das Verſtehen der Sprache ſehr groß iſt. „Es iſt merkwuͤrdig, erwiederte Goethe, daß das Ohr, und uͤberall das Vermoͤgen des Verſtehens dem des Sprechens voraufeilt, ſo daß einer bald ſehr gut alles verſtehen, aber keinesweges alles ausdruͤcken kann.“ Ich finde taͤglich, entgegnete Herr H., daß dieſe Bemerkung ſehr wahr iſt; denn ich verſtehe ſehr gut alles was geſprochen wird, auch ſehr gut alles was ich leſe, ja ich fuͤhle ſogar, wenn einer im Deut¬ ſchen ſich nicht richtig ausdruͤcket. Allein wenn ich ſpreche, ſo ſtockt es und ich weiß nicht recht zu ſagen was ich moͤchte. Eine leichte Converſation bey Hofe, ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beym Tanz und dergleichen gelingt mir ſchon. Will ich aber im Deutſchen uͤber einen hoͤheren Gegenſtand meine Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigenthuͤmliches und Geiſtreiches ſagen, ſo ſtockt es und ich kann nicht fort. „Da troͤſten und beruhigen Sie ſich nur, erwie¬ derte Goethe, denn dergleichen Ungewoͤhnliches auszu¬ druͤcken wird uns wohl in unſerer eigenen Mutterſprache ſchwer.“
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kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber
er las ſeinen Cicero in der franzoͤſiſchen Überſetzung eben
ſo gut als wir andern in der Urſprache.“
Dann das Geſpraͤch auf das Theater wendend fragte
Goethe Herrn H., ob er es viel beſuche. Ich beſuche das
Theater jeden Abend, antwortete dieſer, und ich finde,
daß der Gewinn fuͤr das Verſtehen der Sprache ſehr
groß iſt. „Es iſt merkwuͤrdig, erwiederte Goethe, daß
das Ohr, und uͤberall das Vermoͤgen des Verſtehens
dem des Sprechens voraufeilt, ſo daß einer bald ſehr
gut alles verſtehen, aber keinesweges alles ausdruͤcken
kann.“ Ich finde taͤglich, entgegnete Herr H., daß
dieſe Bemerkung ſehr wahr iſt; denn ich verſtehe ſehr
gut alles was geſprochen wird, auch ſehr gut alles
was ich leſe, ja ich fuͤhle ſogar, wenn einer im Deut¬
ſchen ſich nicht richtig ausdruͤcket. Allein wenn ich
ſpreche, ſo ſtockt es und ich weiß nicht recht zu ſagen
was ich moͤchte. Eine leichte Converſation bey Hofe,
ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beym
Tanz und dergleichen gelingt mir ſchon. Will ich aber
im Deutſchen uͤber einen hoͤheren Gegenſtand meine
Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigenthuͤmliches
und Geiſtreiches ſagen, ſo ſtockt es und ich kann nicht
fort. „Da troͤſten und beruhigen Sie ſich nur, erwie¬
derte Goethe, denn dergleichen Ungewoͤhnliches auszu¬
druͤcken wird uns wohl in unſerer eigenen Mutterſprache
ſchwer.“
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/202>, abgerufen am 25.11.2024.
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