Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich gab ihm Recht und sagte, daß ich bey meinem
Aufenthalt auf der Academie diese Erfahrung gemacht,
indem ich von den Vorträgen der Lehrer nur das be¬
halten, zu dessen Anwendung eine practische Richtung
in mir gelegen; dagegen hätte ich alles, was nicht spä¬
ter bey mir zur Ausübung gekommen, durchaus ver¬
gessen. Ich habe, sagte ich, bey Heeren alte und
neue Geschichte gehört, aber ich weiß davon kein Wort
mehr. Würde ich aber jetzt einen Punkt der Geschichte
in der Absicht studiren, um ihn etwa dramatisch darzu¬
stellen, so würde ich solche Studien mir sicher für immer
zu eigen machen.

"Überall, sagte Goethe, treibt man auf Academien
viel zu viel, und gar zu viel Unnützes. Auch dehnen
die einzelnen Lehrer ihre Fächer zu weit aus, bey wei¬
tem über die Bedürfnisse der Hörer. In früherer Zeit
wurde Chemie und Botanik, als zur Arzneikunde ge¬
hörig, vorgetragen und der Mediciner hatte daran genug.
Jetzt aber sind Chemie und Botanik eigene unüberseh¬
bare Wissenschaften geworden, deren jede ein ganzes
Menschenleben erfordert, und man will sie dem Medi¬
ciner mit zumuthen! Daraus aber kann nichts werden;
das Eine wird über das Andere unterlassen und ver¬
gessen. Wer klug ist, lehnet daher alle zerstreuende An¬
forderungen ab und beschränkt sich auf ein Fach und
wird tüchtig in Einem."

Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Critik, die er

Ich gab ihm Recht und ſagte, daß ich bey meinem
Aufenthalt auf der Academie dieſe Erfahrung gemacht,
indem ich von den Vortraͤgen der Lehrer nur das be¬
halten, zu deſſen Anwendung eine practiſche Richtung
in mir gelegen; dagegen haͤtte ich alles, was nicht ſpaͤ¬
ter bey mir zur Ausuͤbung gekommen, durchaus ver¬
geſſen. Ich habe, ſagte ich, bey Heeren alte und
neue Geſchichte gehoͤrt, aber ich weiß davon kein Wort
mehr. Wuͤrde ich aber jetzt einen Punkt der Geſchichte
in der Abſicht ſtudiren, um ihn etwa dramatiſch darzu¬
ſtellen, ſo wuͤrde ich ſolche Studien mir ſicher fuͤr immer
zu eigen machen.

„Überall, ſagte Goethe, treibt man auf Academien
viel zu viel, und gar zu viel Unnuͤtzes. Auch dehnen
die einzelnen Lehrer ihre Faͤcher zu weit aus, bey wei¬
tem uͤber die Beduͤrfniſſe der Hoͤrer. In fruͤherer Zeit
wurde Chemie und Botanik, als zur Arzneikunde ge¬
hoͤrig, vorgetragen und der Mediciner hatte daran genug.
Jetzt aber ſind Chemie und Botanik eigene unuͤberſeh¬
bare Wiſſenſchaften geworden, deren jede ein ganzes
Menſchenleben erfordert, und man will ſie dem Medi¬
ciner mit zumuthen! Daraus aber kann nichts werden;
das Eine wird uͤber das Andere unterlaſſen und ver¬
geſſen. Wer klug iſt, lehnet daher alle zerſtreuende An¬
forderungen ab und beſchraͤnkt ſich auf ein Fach und
wird tuͤchtig in Einem.“

Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Critik, die er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0132" n="112"/>
          <p>Ich gab ihm Recht und &#x017F;agte, daß ich bey meinem<lb/>
Aufenthalt auf der Academie die&#x017F;e Erfahrung gemacht,<lb/>
indem ich von den Vortra&#x0364;gen der Lehrer nur das be¬<lb/>
halten, zu de&#x017F;&#x017F;en Anwendung eine practi&#x017F;che Richtung<lb/>
in mir gelegen; dagegen ha&#x0364;tte ich alles, was nicht &#x017F;pa&#x0364;¬<lb/>
ter bey mir zur Ausu&#x0364;bung gekommen, durchaus ver¬<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en. Ich habe, &#x017F;agte ich, bey <hi rendition="#g">Heeren</hi> alte und<lb/>
neue Ge&#x017F;chichte geho&#x0364;rt, aber ich weiß davon kein Wort<lb/>
mehr. Wu&#x0364;rde ich aber jetzt einen Punkt der Ge&#x017F;chichte<lb/>
in der Ab&#x017F;icht &#x017F;tudiren, um ihn etwa dramati&#x017F;ch darzu¬<lb/>
&#x017F;tellen, &#x017F;o wu&#x0364;rde ich &#x017F;olche Studien mir &#x017F;icher fu&#x0364;r immer<lb/>
zu eigen machen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Überall, &#x017F;agte Goethe, treibt man auf Academien<lb/>
viel zu viel, und gar zu viel Unnu&#x0364;tzes. Auch dehnen<lb/>
die einzelnen Lehrer ihre Fa&#x0364;cher zu weit aus, bey wei¬<lb/>
tem u&#x0364;ber die Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e der Ho&#x0364;rer. In fru&#x0364;herer Zeit<lb/>
wurde Chemie und Botanik, als zur Arzneikunde ge¬<lb/>
ho&#x0364;rig, vorgetragen und der Mediciner hatte daran genug.<lb/>
Jetzt aber &#x017F;ind Chemie und Botanik eigene unu&#x0364;ber&#x017F;eh¬<lb/>
bare Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften geworden, deren jede ein ganzes<lb/>
Men&#x017F;chenleben erfordert, und man will &#x017F;ie dem Medi¬<lb/>
ciner mit zumuthen! Daraus aber kann nichts werden;<lb/>
das Eine wird u&#x0364;ber das Andere unterla&#x017F;&#x017F;en und ver¬<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en. Wer klug i&#x017F;t, lehnet daher alle zer&#x017F;treuende An¬<lb/>
forderungen ab und be&#x017F;chra&#x0364;nkt &#x017F;ich auf <hi rendition="#g">ein</hi> Fach und<lb/>
wird tu&#x0364;chtig in Einem.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Critik, die er<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[112/0132] Ich gab ihm Recht und ſagte, daß ich bey meinem Aufenthalt auf der Academie dieſe Erfahrung gemacht, indem ich von den Vortraͤgen der Lehrer nur das be¬ halten, zu deſſen Anwendung eine practiſche Richtung in mir gelegen; dagegen haͤtte ich alles, was nicht ſpaͤ¬ ter bey mir zur Ausuͤbung gekommen, durchaus ver¬ geſſen. Ich habe, ſagte ich, bey Heeren alte und neue Geſchichte gehoͤrt, aber ich weiß davon kein Wort mehr. Wuͤrde ich aber jetzt einen Punkt der Geſchichte in der Abſicht ſtudiren, um ihn etwa dramatiſch darzu¬ ſtellen, ſo wuͤrde ich ſolche Studien mir ſicher fuͤr immer zu eigen machen. „Überall, ſagte Goethe, treibt man auf Academien viel zu viel, und gar zu viel Unnuͤtzes. Auch dehnen die einzelnen Lehrer ihre Faͤcher zu weit aus, bey wei¬ tem uͤber die Beduͤrfniſſe der Hoͤrer. In fruͤherer Zeit wurde Chemie und Botanik, als zur Arzneikunde ge¬ hoͤrig, vorgetragen und der Mediciner hatte daran genug. Jetzt aber ſind Chemie und Botanik eigene unuͤberſeh¬ bare Wiſſenſchaften geworden, deren jede ein ganzes Menſchenleben erfordert, und man will ſie dem Medi¬ ciner mit zumuthen! Daraus aber kann nichts werden; das Eine wird uͤber das Andere unterlaſſen und ver¬ geſſen. Wer klug iſt, lehnet daher alle zerſtreuende An¬ forderungen ab und beſchraͤnkt ſich auf ein Fach und wird tuͤchtig in Einem.“ Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Critik, die er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/132
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/132>, abgerufen am 27.11.2024.