Marienbad abreis'te und ich mich noch im vollen frischen Gefühle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf der ersten Station schrieb ich die erste Strophe und so dichtete ich im Wagen fort und schrieb von Station zu Station das im Gedächtniß Gefaßte nieder, so daß es Abends fertig auf dem Papiere stand. Es hat daher eine gewisse Unmittelbarkeit und ist wie aus einem Gusse, welches dem Ganzen zu Gute kommen mag."
Zugleich, sagte ich, hat es in seiner ganzen Art viel Eigenthümliches, so daß es an keins Ihrer anderen Gedichte erinnert.
"Das mag daher kommen, sagte Goethe. Ich setzte auf die Gegenwart, so wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte setzt, und suchte sie ohne Übertreibung so hoch zu steigern als möglich."
Diese Äußerung erschien mir sehr wichtig, indem sie Goethe's Verfahren ans Licht setzet und uns seine allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erkärlich macht.
Es war indeß gegen neun Uhr geworden; Goethe bat mich, seinen Bedienten Stadelmann zu rufen, wel¬ ches ich that.
Er ließ sich darauf von diesem das verordnete Pfla¬ ster auf die Brust zur Seite des Herzens legen. Ich stellte mich derweil ans Fenster. Hinter meinem Rücken hörte ich nun, wie er gegen Stadelmann klagte, daß sein Übel sich gar nicht bessern wolle und daß es einen bleibenden Character annehme. Als die Operation vor¬
Marienbad abreiſ'te und ich mich noch im vollen friſchen Gefuͤhle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf der erſten Station ſchrieb ich die erſte Strophe und ſo dichtete ich im Wagen fort und ſchrieb von Station zu Station das im Gedaͤchtniß Gefaßte nieder, ſo daß es Abends fertig auf dem Papiere ſtand. Es hat daher eine gewiſſe Unmittelbarkeit und iſt wie aus einem Guſſe, welches dem Ganzen zu Gute kommen mag.“
Zugleich, ſagte ich, hat es in ſeiner ganzen Art viel Eigenthuͤmliches, ſo daß es an keins Ihrer anderen Gedichte erinnert.
„Das mag daher kommen, ſagte Goethe. Ich ſetzte auf die Gegenwart, ſo wie man eine bedeutende Summe auf eine Karte ſetzt, und ſuchte ſie ohne Übertreibung ſo hoch zu ſteigern als moͤglich.“
Dieſe Äußerung erſchien mir ſehr wichtig, indem ſie Goethe's Verfahren ans Licht ſetzet und uns ſeine allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erkaͤrlich macht.
Es war indeß gegen neun Uhr geworden; Goethe bat mich, ſeinen Bedienten Stadelmann zu rufen, wel¬ ches ich that.
Er ließ ſich darauf von dieſem das verordnete Pfla¬ ſter auf die Bruſt zur Seite des Herzens legen. Ich ſtellte mich derweil ans Fenſter. Hinter meinem Ruͤcken hoͤrte ich nun, wie er gegen Stadelmann klagte, daß ſein Übel ſich gar nicht beſſern wolle und daß es einen bleibenden Character annehme. Als die Operation vor¬
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Marienbad abreiſ'te und ich mich noch im vollen friſchen
Gefuͤhle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf
der erſten Station ſchrieb ich die erſte Strophe und ſo
dichtete ich im Wagen fort und ſchrieb von Station zu
Station das im Gedaͤchtniß Gefaßte nieder, ſo daß es
Abends fertig auf dem Papiere ſtand. Es hat daher
eine gewiſſe Unmittelbarkeit und iſt wie aus einem Guſſe,
welches dem Ganzen zu Gute kommen mag.“
Zugleich, ſagte ich, hat es in ſeiner ganzen Art viel
Eigenthuͤmliches, ſo daß es an keins Ihrer anderen
Gedichte erinnert.
„Das mag daher kommen, ſagte Goethe. Ich ſetzte
auf die Gegenwart, ſo wie man eine bedeutende Summe
auf eine Karte ſetzt, und ſuchte ſie ohne Übertreibung
ſo hoch zu ſteigern als moͤglich.“
Dieſe Äußerung erſchien mir ſehr wichtig, indem
ſie Goethe's Verfahren ans Licht ſetzet und uns ſeine
allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erkaͤrlich macht.
Es war indeß gegen neun Uhr geworden; Goethe
bat mich, ſeinen Bedienten Stadelmann zu rufen, wel¬
ches ich that.
Er ließ ſich darauf von dieſem das verordnete Pfla¬
ſter auf die Bruſt zur Seite des Herzens legen. Ich
ſtellte mich derweil ans Fenſter. Hinter meinem Ruͤcken
hoͤrte ich nun, wie er gegen Stadelmann klagte, daß
ſein Übel ſich gar nicht beſſern wolle und daß es einen
bleibenden Character annehme. Als die Operation vor¬
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/112>, abgerufen am 25.11.2024.
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