Schon versuchte die Sonne, sich durch die dichten Vorhänge, welche das Fenster des Krankenzimmers der Aegypterin verschlossen, Bahn zu brechen, als Nebenchari noch immer an dem Lager derselben saß. Bald befühlte er ihren Puls, bald bestrich er ihre Stirn und Brust mit duftenden Salben, bald starrte er träumerisch vor sich hin. Die Leidende schien nach einem Krampfanfalle in tiefem Schlummer zu liegen. Am Fußende ihres Bettes standen sechs persische Heilkünstler und murmelten Beschwörungen, während Nebenchari zu Häupten der Kranken saß und von dort aus den Asiaten, die seine überlegenen Kenntnisse anerkannten, Vorschriften diktirte.
So oft der Aegypter den Puls der Kranken berührte, zuckte er mit den Achseln, eine Bewegung, welche seine persischen Collegen sofort einhellig nachahmten. Von Zeit zu Zeit öffnete sich der Vorhang des Zimmers und ließ einen blühenden Mädchenkopf sehen, dessen blaue Augen den Heilkünstler fragend anschauten, um von demselben jedesmal mit demselben bedauerlichen Achselzucken abgefertigt zu werden. Zweimal hatte sich die Fragerin, Atossa, die Schwester des Königs, den schweren Teppich von milesischem
Zweites Kapitel.
Schon verſuchte die Sonne, ſich durch die dichten Vorhänge, welche das Fenſter des Krankenzimmers der Aegypterin verſchloſſen, Bahn zu brechen, als Nebenchari noch immer an dem Lager derſelben ſaß. Bald befühlte er ihren Puls, bald beſtrich er ihre Stirn und Bruſt mit duftenden Salben, bald ſtarrte er träumeriſch vor ſich hin. Die Leidende ſchien nach einem Krampfanfalle in tiefem Schlummer zu liegen. Am Fußende ihres Bettes ſtanden ſechs perſiſche Heilkünſtler und murmelten Beſchwörungen, während Nebenchari zu Häupten der Kranken ſaß und von dort aus den Aſiaten, die ſeine überlegenen Kenntniſſe anerkannten, Vorſchriften diktirte.
So oft der Aegypter den Puls der Kranken berührte, zuckte er mit den Achſeln, eine Bewegung, welche ſeine perſiſchen Collegen ſofort einhellig nachahmten. Von Zeit zu Zeit öffnete ſich der Vorhang des Zimmers und ließ einen blühenden Mädchenkopf ſehen, deſſen blaue Augen den Heilkünſtler fragend anſchauten, um von demſelben jedesmal mit demſelben bedauerlichen Achſelzucken abgefertigt zu werden. Zweimal hatte ſich die Fragerin, Atoſſa, die Schweſter des Königs, den ſchweren Teppich von mileſiſchem
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[[29]/0039]
Zweites Kapitel.
Schon verſuchte die Sonne, ſich durch die dichten
Vorhänge, welche das Fenſter des Krankenzimmers der
Aegypterin verſchloſſen, Bahn zu brechen, als Nebenchari
noch immer an dem Lager derſelben ſaß. Bald befühlte
er ihren Puls, bald beſtrich er ihre Stirn und Bruſt mit
duftenden Salben, bald ſtarrte er träumeriſch vor ſich hin.
Die Leidende ſchien nach einem Krampfanfalle in tiefem
Schlummer zu liegen. Am Fußende ihres Bettes ſtanden
ſechs perſiſche Heilkünſtler und murmelten Beſchwörungen,
während Nebenchari zu Häupten der Kranken ſaß und von
dort aus den Aſiaten, die ſeine überlegenen Kenntniſſe
anerkannten, Vorſchriften diktirte.
So oft der Aegypter den Puls der Kranken berührte,
zuckte er mit den Achſeln, eine Bewegung, welche ſeine
perſiſchen Collegen ſofort einhellig nachahmten. Von Zeit
zu Zeit öffnete ſich der Vorhang des Zimmers und ließ
einen blühenden Mädchenkopf ſehen, deſſen blaue Augen
den Heilkünſtler fragend anſchauten, um von demſelben
jedesmal mit demſelben bedauerlichen Achſelzucken abgefertigt
zu werden. Zweimal hatte ſich die Fragerin, Atoſſa, die
Schweſter des Königs, den ſchweren Teppich von mileſiſchem
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. [29]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/39>, abgerufen am 22.11.2024.
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