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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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verborgen von dem Dämmerlichte des Zimmers, der ägyp-
tische Augenarzt Nebenchari.

Als Nitetis die Schwelle dieses Gemaches überschritten
hatte, trat der König auf sie zu, und führte sie seiner
Mutter entgegen. -- Die Tochter des Amasis sank vor
der ehrwürdigen Greisin auf die Kniee nieder und küßte
die Hand derselben mit wahrer Herzlichkeit.

"Sei uns willkommen!" rief die Blinde, ihre tastende
Hand auf das Haupt der Jungfrau legend. "Jch habe
viel Gutes von Dir vernommen und hoffe eine liebe Tochter
an Dir zu gewinnen."

Nitetis küßte abermals die zarte Hand der Königin
und erwiederte mit leiser Stimme: "Wie dank' ich Dir
für diese Worte. O gestatte mir, Dich, die Gattin des
Kyros, Mutter zu nennen. Meine Zunge, welche diesen
süßen Namen auszusprechen gewohnt war, zittert vor
Wonne, da sie jetzt, seit langen Wochen zum Erstenmale,
wieder rufen darf: ,Meine Mutter!' Ach, ich will mich
mit aller Kraft bestreben würdig zu werden Deiner Güte,
aber halte auch Du, was mir Dein liebes Angesicht zu
versprechen scheint; steh mir in diesem fremden Lande mit
Rath und Lehre zur Seite, laß mich zu Deinen Füßen
eine Zuflucht finden, wenn die Sehnsucht mich übermannt
und mein Herz zu schwach wird, seinen Gram oder seine
Wonne allein zu tragen; sei mir, in diesem einen Worte
ist alles gesagt, sei, o sei meine Mutter!"

Die Blinde fühlte warme Tropfen auf ihre Hand
herniederfallen. Freundlich berührte sie mit den Lippen
die Stirn der Weinenden und sagte: "Jch fühle Dir nach,
was Du empfindest! Mein Herz wie meine Gemächer
werden stets für Dich geöffnet sein, und, wie ich Dich mit
ganzer Seele ,Tochter', so nenne Du mich mit vollem Zu-

verborgen von dem Dämmerlichte des Zimmers, der ägyp-
tiſche Augenarzt Nebenchari.

Als Nitetis die Schwelle dieſes Gemaches überſchritten
hatte, trat der König auf ſie zu, und führte ſie ſeiner
Mutter entgegen. — Die Tochter des Amaſis ſank vor
der ehrwürdigen Greiſin auf die Kniee nieder und küßte
die Hand derſelben mit wahrer Herzlichkeit.

„Sei uns willkommen!“ rief die Blinde, ihre taſtende
Hand auf das Haupt der Jungfrau legend. „Jch habe
viel Gutes von Dir vernommen und hoffe eine liebe Tochter
an Dir zu gewinnen.“

Nitetis küßte abermals die zarte Hand der Königin
und erwiederte mit leiſer Stimme: „Wie dank’ ich Dir
für dieſe Worte. O geſtatte mir, Dich, die Gattin des
Kyros, Mutter zu nennen. Meine Zunge, welche dieſen
ſüßen Namen auszuſprechen gewohnt war, zittert vor
Wonne, da ſie jetzt, ſeit langen Wochen zum Erſtenmale,
wieder rufen darf: ‚Meine Mutter!‘ Ach, ich will mich
mit aller Kraft beſtreben würdig zu werden Deiner Güte,
aber halte auch Du, was mir Dein liebes Angeſicht zu
verſprechen ſcheint; ſteh mir in dieſem fremden Lande mit
Rath und Lehre zur Seite, laß mich zu Deinen Füßen
eine Zuflucht finden, wenn die Sehnſucht mich übermannt
und mein Herz zu ſchwach wird, ſeinen Gram oder ſeine
Wonne allein zu tragen; ſei mir, in dieſem einen Worte
iſt alles geſagt, ſei, o ſei meine Mutter!“

Die Blinde fühlte warme Tropfen auf ihre Hand
herniederfallen. Freundlich berührte ſie mit den Lippen
die Stirn der Weinenden und ſagte: „Jch fühle Dir nach,
was Du empfindeſt! Mein Herz wie meine Gemächer
werden ſtets für Dich geöffnet ſein, und, wie ich Dich mit
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[38/0040] verborgen von dem Dämmerlichte des Zimmers, der ägyp- tiſche Augenarzt Nebenchari. Als Nitetis die Schwelle dieſes Gemaches überſchritten hatte, trat der König auf ſie zu, und führte ſie ſeiner Mutter entgegen. — Die Tochter des Amaſis ſank vor der ehrwürdigen Greiſin auf die Kniee nieder und küßte die Hand derſelben mit wahrer Herzlichkeit. „Sei uns willkommen!“ rief die Blinde, ihre taſtende Hand auf das Haupt der Jungfrau legend. „Jch habe viel Gutes von Dir vernommen und hoffe eine liebe Tochter an Dir zu gewinnen.“ Nitetis küßte abermals die zarte Hand der Königin und erwiederte mit leiſer Stimme: „Wie dank’ ich Dir für dieſe Worte. O geſtatte mir, Dich, die Gattin des Kyros, Mutter zu nennen. Meine Zunge, welche dieſen ſüßen Namen auszuſprechen gewohnt war, zittert vor Wonne, da ſie jetzt, ſeit langen Wochen zum Erſtenmale, wieder rufen darf: ‚Meine Mutter!‘ Ach, ich will mich mit aller Kraft beſtreben würdig zu werden Deiner Güte, aber halte auch Du, was mir Dein liebes Angeſicht zu verſprechen ſcheint; ſteh mir in dieſem fremden Lande mit Rath und Lehre zur Seite, laß mich zu Deinen Füßen eine Zuflucht finden, wenn die Sehnſucht mich übermannt und mein Herz zu ſchwach wird, ſeinen Gram oder ſeine Wonne allein zu tragen; ſei mir, in dieſem einen Worte iſt alles geſagt, ſei, o ſei meine Mutter!“ Die Blinde fühlte warme Tropfen auf ihre Hand herniederfallen. Freundlich berührte ſie mit den Lippen die Stirn der Weinenden und ſagte: „Jch fühle Dir nach, was Du empfindeſt! Mein Herz wie meine Gemächer werden ſtets für Dich geöffnet ſein, und, wie ich Dich mit ganzer Seele ‚Tochter‘, ſo nenne Du mich mit vollem Zu-

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/40>, abgerufen am 18.04.2024.