"Wie seltsam! Bei uns wachsen wir Frauen heran, wie wir eben wollen, und lernen nichts, als ein bischen weben und spinnen. Jst es wahr, daß die meisten Aegyp- terinnen sogar die Kunst des Schreibens und Lesens ver- stehen?"
"Fast alle werden in diesen Fertigkeiten unterrichtet."
"Beim Mithra, ihr müßt ein kluges Volk sein! Außer den Magiern und Schreibern, erlernen nur wenige Perser jene schweren Wissenschaften. Die edlen Knaben lehrt man nichts, als die Wahrheit zu reden, gehorsam und tapfer zu sein, die Götter zu ehren, zu jagen, zu reiten, Bäume zu pflanzen und Kräuter zu unterscheiden. Wer schreiben lernen will, der mag sich später, wie der edle Darius, an die Magier wenden. Den Frauen ist es sogar verboten, solchen Wissenschaften ob zu liegen. -- Aber jetzt bist Du fertig. Diese Perlenschnur, welche Dir der König heut' morgen geschickt hat, steht prächtig zu Deinen rabenschwarzen Haaren; aber man sieht Dir an, daß Du noch nicht gewohnt bist, die weiten seidnen Bein- kleider und die Stiefelchen mit den hohen Hacken zu tra- gen. Geh nur ein paar mal auf und ab, dann wirst Du, selbst im Gange, alle Perserinnen ausstechen!"
Jn diesem Augenblicke klopfte es an die Thür und Boges, der Eunuch, trat ein, um Nitetis der blinden Kas- sandane, bei welcher Kambyses ihrer wartete, zuzuführen.
Der Verschnittene stellte sich ihr als demüthigster Sclave dar und ergoß sich in einem Strom von blumen- reichen Schmeichelworten, indem er sie mit der Sonne, dem Sternenhimmel, einer reinen Quelle des Glücks und einem Rosengarten verglich. Nitetis würdigte ihn keines Wortes und trat mit hochklopfendem Herzen in das Ge- mach der Mutter des Königs.
„Wie ſeltſam! Bei uns wachſen wir Frauen heran, wie wir eben wollen, und lernen nichts, als ein bischen weben und ſpinnen. Jſt es wahr, daß die meiſten Aegyp- terinnen ſogar die Kunſt des Schreibens und Leſens ver- ſtehen?“
„Faſt alle werden in dieſen Fertigkeiten unterrichtet.“
„Beim Mithra, ihr müßt ein kluges Volk ſein! Außer den Magiern und Schreibern, erlernen nur wenige Perſer jene ſchweren Wiſſenſchaften. Die edlen Knaben lehrt man nichts, als die Wahrheit zu reden, gehorſam und tapfer zu ſein, die Götter zu ehren, zu jagen, zu reiten, Bäume zu pflanzen und Kräuter zu unterſcheiden. Wer ſchreiben lernen will, der mag ſich ſpäter, wie der edle Darius, an die Magier wenden. Den Frauen iſt es ſogar verboten, ſolchen Wiſſenſchaften ob zu liegen. — Aber jetzt biſt Du fertig. Dieſe Perlenſchnur, welche Dir der König heut’ morgen geſchickt hat, ſteht prächtig zu Deinen rabenſchwarzen Haaren; aber man ſieht Dir an, daß Du noch nicht gewohnt biſt, die weiten ſeidnen Bein- kleider und die Stiefelchen mit den hohen Hacken zu tra- gen. Geh nur ein paar mal auf und ab, dann wirſt Du, ſelbſt im Gange, alle Perſerinnen ausſtechen!“
Jn dieſem Augenblicke klopfte es an die Thür und Boges, der Eunuch, trat ein, um Nitetis der blinden Kaſ- ſandane, bei welcher Kambyſes ihrer wartete, zuzuführen.
Der Verſchnittene ſtellte ſich ihr als demüthigſter Sclave dar und ergoß ſich in einem Strom von blumen- reichen Schmeichelworten, indem er ſie mit der Sonne, dem Sternenhimmel, einer reinen Quelle des Glücks und einem Roſengarten verglich. Nitetis würdigte ihn keines Wortes und trat mit hochklopfendem Herzen in das Ge- mach der Mutter des Königs.
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„Wie ſeltſam! Bei uns wachſen wir Frauen heran,
wie wir eben wollen, und lernen nichts, als ein bischen
weben und ſpinnen. Jſt es wahr, daß die meiſten Aegyp-
terinnen ſogar die Kunſt des Schreibens und Leſens ver-
ſtehen?“
„Faſt alle werden in dieſen Fertigkeiten unterrichtet.“
„Beim Mithra, ihr müßt ein kluges Volk ſein!
Außer den Magiern und Schreibern, erlernen nur wenige
Perſer jene ſchweren Wiſſenſchaften. Die edlen Knaben
lehrt man nichts, als die Wahrheit zu reden, gehorſam
und tapfer zu ſein, die Götter zu ehren, zu jagen, zu
reiten, Bäume zu pflanzen und Kräuter zu unterſcheiden.
Wer ſchreiben lernen will, der mag ſich ſpäter, wie der
edle Darius, an die Magier wenden. Den Frauen iſt es
ſogar verboten, ſolchen Wiſſenſchaften ob zu liegen. —
Aber jetzt biſt Du fertig. Dieſe Perlenſchnur, welche Dir
der König heut’ morgen geſchickt hat, ſteht prächtig zu
Deinen rabenſchwarzen Haaren; aber man ſieht Dir an,
daß Du noch nicht gewohnt biſt, die weiten ſeidnen Bein-
kleider und die Stiefelchen mit den hohen Hacken zu tra-
gen. Geh nur ein paar mal auf und ab, dann wirſt
Du, ſelbſt im Gange, alle Perſerinnen ausſtechen!“
Jn dieſem Augenblicke klopfte es an die Thür und
Boges, der Eunuch, trat ein, um Nitetis der blinden Kaſ-
ſandane, bei welcher Kambyſes ihrer wartete, zuzuführen.
Der Verſchnittene ſtellte ſich ihr als demüthigſter
Sclave dar und ergoß ſich in einem Strom von blumen-
reichen Schmeichelworten, indem er ſie mit der Sonne,
dem Sternenhimmel, einer reinen Quelle des Glücks und
einem Roſengarten verglich. Nitetis würdigte ihn keines
Wortes und trat mit hochklopfendem Herzen in das Ge-
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/38>, abgerufen am 16.02.2025.
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