"Wie kamst Du, ein Priester, dazu, dieß junge Weib so auffallend zu begünstigen?"
"Jhre Eltern starben an derselben Pest, welche meine Brüder dahinraffte. Jhr Vater war ein ehrenwerther Priester und ein Freund unsres Hauses; darum nahmen wir das Mägdlein zu uns, eingedenk der hohen Lehre: ,Gibst Du dem reinen Manne und seinen Wittwen und Waisen nichts, dann wirst Du fortgeschleudert werden von der reinen, unterwürfigen Erde zu stachelnden Nesseln, schmerzenden Leiden und den furchtbarsten Orten.' So wurde ich ihr Pflegevater und ließ sie mit meinem jüngsten Bru- der auferziehen, bis derselbe in die Priesterschule mußte."
Der König wechselte mit Phanes einen Blick des Ein- verständnisses und fragte: "Warum behieltest Du das Mädchen, welches doch schön zu sein scheint, nicht bei Dir?"
"Als sie die Ohrringe *) erhalten hatte, hielt ich es für passend, sie, eine Jungfrau, aus meinem priesterlichen Hause zu entfernen und ihr eine selbstständige Zukunft zu gründen."
"Hat sie, auch als erwachsenes Mädchen, Deinen Bruder wiedergesehn?"
"Ja, mein König. So oft mich Gaumata besuchte, ließ ich ihn mit Mandane wie mit seiner Schwester ver- kehren; als ich aber später bemerkte, daß sich in die kind- liche Freundschaft die Leidenschaft der Jugend zu mischen beginne, wurde mein Beschluß, das Mädchen fortzuschicken, immer fester."
"Wir wissen genug, sagte der König, indem er dem Oberpriester durch einen Wink zurückzutreten befahl. Dann
*) Siehe Anmerkung 20 des II. Theils.
„Wie kamſt Du, ein Prieſter, dazu, dieß junge Weib ſo auffallend zu begünſtigen?“
„Jhre Eltern ſtarben an derſelben Peſt, welche meine Brüder dahinraffte. Jhr Vater war ein ehrenwerther Prieſter und ein Freund unſres Hauſes; darum nahmen wir das Mägdlein zu uns, eingedenk der hohen Lehre: ‚Gibſt Du dem reinen Manne und ſeinen Wittwen und Waiſen nichts, dann wirſt Du fortgeſchleudert werden von der reinen, unterwürfigen Erde zu ſtachelnden Neſſeln, ſchmerzenden Leiden und den furchtbarſten Orten.‘ So wurde ich ihr Pflegevater und ließ ſie mit meinem jüngſten Bru- der auferziehen, bis derſelbe in die Prieſterſchule mußte.“
Der König wechſelte mit Phanes einen Blick des Ein- verſtändniſſes und fragte: „Warum behielteſt Du das Mädchen, welches doch ſchön zu ſein ſcheint, nicht bei Dir?“
„Als ſie die Ohrringe *) erhalten hatte, hielt ich es für paſſend, ſie, eine Jungfrau, aus meinem prieſterlichen Hauſe zu entfernen und ihr eine ſelbſtſtändige Zukunft zu gründen.“
„Hat ſie, auch als erwachſenes Mädchen, Deinen Bruder wiedergeſehn?“
„Ja, mein König. So oft mich Gaumata beſuchte, ließ ich ihn mit Mandane wie mit ſeiner Schweſter ver- kehren; als ich aber ſpäter bemerkte, daß ſich in die kind- liche Freundſchaft die Leidenſchaft der Jugend zu miſchen beginne, wurde mein Beſchluß, das Mädchen fortzuſchicken, immer feſter.“
„Wir wiſſen genug, ſagte der König, indem er dem Oberprieſter durch einen Wink zurückzutreten befahl. Dann
*) Siehe Anmerkung 20 des II. Theils.
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„Wie kamſt Du, ein Prieſter, dazu, dieß junge Weib
ſo auffallend zu begünſtigen?“
„Jhre Eltern ſtarben an derſelben Peſt, welche meine
Brüder dahinraffte. Jhr Vater war ein ehrenwerther
Prieſter und ein Freund unſres Hauſes; darum nahmen
wir das Mägdlein zu uns, eingedenk der hohen Lehre:
‚Gibſt Du dem reinen Manne und ſeinen Wittwen und
Waiſen nichts, dann wirſt Du fortgeſchleudert werden von
der reinen, unterwürfigen Erde zu ſtachelnden Neſſeln,
ſchmerzenden Leiden und den furchtbarſten Orten.‘ So wurde
ich ihr Pflegevater und ließ ſie mit meinem jüngſten Bru-
der auferziehen, bis derſelbe in die Prieſterſchule mußte.“
Der König wechſelte mit Phanes einen Blick des Ein-
verſtändniſſes und fragte: „Warum behielteſt Du das
Mädchen, welches doch ſchön zu ſein ſcheint, nicht bei
Dir?“
„Als ſie die Ohrringe *) erhalten hatte, hielt ich es
für paſſend, ſie, eine Jungfrau, aus meinem prieſterlichen
Hauſe zu entfernen und ihr eine ſelbſtſtändige Zukunft zu
gründen.“
„Hat ſie, auch als erwachſenes Mädchen, Deinen
Bruder wiedergeſehn?“
„Ja, mein König. So oft mich Gaumata beſuchte,
ließ ich ihn mit Mandane wie mit ſeiner Schweſter ver-
kehren; als ich aber ſpäter bemerkte, daß ſich in die kind-
liche Freundſchaft die Leidenſchaft der Jugend zu miſchen
beginne, wurde mein Beſchluß, das Mädchen fortzuſchicken,
immer feſter.“
„Wir wiſſen genug, ſagte der König, indem er dem
Oberprieſter durch einen Wink zurückzutreten befahl. Dann
*) Siehe Anmerkung 20 des II. Theils.
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/226>, abgerufen am 22.07.2024.
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