präcisieren wollte, wie müsste man sagen? Das Thermometer steigt mit steigender Temperatur, die Magnetnadel wird um wachsende Winkel abgelenkt mit wachsender Intensität des sie umkreisenden elektrischen Stromes. Aber während dort für gleiche Temperaturzunahmen die Quecksilbersäule immer um gleiche Strecken steigt, werden hier für gleiche Zuwüchse der Stromintensität die Zuwüchse der Ablenkungswinkel immer kleiner. Was gilt nun nach dieser Analogie von der inneren Festigkeit mehrfach wiederholter Reihen? Soll man sie ohne weiteres proportional setzen der Anzahl der Wiederholungen und sie demnach als doppelt oder dreimal so gross bezeichnen, wenn gleichartige Reihen bei gleicher Aufmerksamkeit dop- pelt oder dreimal so oft wiederholt wurden als andere? Oder wächst sie bei gleicher Zunahme der Wiederholungen um immer geringere Bruchteile? oder wie sonst?
Offenbar hat diese Frage ihren guten Sinn; ihre Beant- wortung wäre theoretisch sowohl wie praktisch von Interesse und Wichtigkeit. Mit den bisherigen Hülfsmitteln kann man sie indes weder entscheiden noch auch untersuchen; ja nicht einmal ihre einfache Auffassung ist ganz sichergestellt, solange die Worte "innere Festigkeit", "Eingegrabensein", mehr etwas Unbestimmtes und Bildliches als etwas klar und anschaulich Definiertes bezeichnen.
In Anwendung der oben (§ 5) entwickelten Principien definiere ich die innere Festigkeit einer Vorstellungsreihe, den Grad ihres Haftens, durch die grössere oder geringere Bereit- willigkeit, mit der sie zu einer bestimmten Zeit nach ihrer ersten Einprägung ihrer Reproduktion entgegenkommt. Diese Bereitwilligkeit messe ich an der Arbeitsersparnis, welche bei dem Auswendiglernen der irgendwie haftenden Reihe statt- findet, gegenüber derjenigen Arbeit, welche für eine gleich- artige aber noch nicht eingeprägte Reihe nötig sein würde.
präcisieren wollte, wie müſste man sagen? Das Thermometer steigt mit steigender Temperatur, die Magnetnadel wird um wachsende Winkel abgelenkt mit wachsender Intensität des sie umkreisenden elektrischen Stromes. Aber während dort für gleiche Temperaturzunahmen die Quecksilbersäule immer um gleiche Strecken steigt, werden hier für gleiche Zuwüchse der Stromintensität die Zuwüchse der Ablenkungswinkel immer kleiner. Was gilt nun nach dieser Analogie von der inneren Festigkeit mehrfach wiederholter Reihen? Soll man sie ohne weiteres proportional setzen der Anzahl der Wiederholungen und sie demnach als doppelt oder dreimal so groſs bezeichnen, wenn gleichartige Reihen bei gleicher Aufmerksamkeit dop- pelt oder dreimal so oft wiederholt wurden als andere? Oder wächst sie bei gleicher Zunahme der Wiederholungen um immer geringere Bruchteile? oder wie sonst?
Offenbar hat diese Frage ihren guten Sinn; ihre Beant- wortung wäre theoretisch sowohl wie praktisch von Interesse und Wichtigkeit. Mit den bisherigen Hülfsmitteln kann man sie indes weder entscheiden noch auch untersuchen; ja nicht einmal ihre einfache Auffassung ist ganz sichergestellt, solange die Worte „innere Festigkeit“, „Eingegrabensein“, mehr etwas Unbestimmtes und Bildliches als etwas klar und anschaulich Definiertes bezeichnen.
In Anwendung der oben (§ 5) entwickelten Principien definiere ich die innere Festigkeit einer Vorstellungsreihe, den Grad ihres Haftens, durch die gröſsere oder geringere Bereit- willigkeit, mit der sie zu einer bestimmten Zeit nach ihrer ersten Einprägung ihrer Reproduktion entgegenkommt. Diese Bereitwilligkeit messe ich an der Arbeitsersparnis, welche bei dem Auswendiglernen der irgendwie haftenden Reihe statt- findet, gegenüber derjenigen Arbeit, welche für eine gleich- artige aber noch nicht eingeprägte Reihe nötig sein würde.
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[72/0088]
präcisieren wollte, wie müſste man sagen? Das Thermometer
steigt mit steigender Temperatur, die Magnetnadel wird um
wachsende Winkel abgelenkt mit wachsender Intensität des
sie umkreisenden elektrischen Stromes. Aber während dort
für gleiche Temperaturzunahmen die Quecksilbersäule immer
um gleiche Strecken steigt, werden hier für gleiche Zuwüchse
der Stromintensität die Zuwüchse der Ablenkungswinkel immer
kleiner. Was gilt nun nach dieser Analogie von der inneren
Festigkeit mehrfach wiederholter Reihen? Soll man sie ohne
weiteres proportional setzen der Anzahl der Wiederholungen
und sie demnach als doppelt oder dreimal so groſs bezeichnen,
wenn gleichartige Reihen bei gleicher Aufmerksamkeit dop-
pelt oder dreimal so oft wiederholt wurden als andere? Oder
wächst sie bei gleicher Zunahme der Wiederholungen um
immer geringere Bruchteile? oder wie sonst?
Offenbar hat diese Frage ihren guten Sinn; ihre Beant-
wortung wäre theoretisch sowohl wie praktisch von Interesse
und Wichtigkeit. Mit den bisherigen Hülfsmitteln kann man
sie indes weder entscheiden noch auch untersuchen; ja nicht
einmal ihre einfache Auffassung ist ganz sichergestellt, solange
die Worte „innere Festigkeit“, „Eingegrabensein“, mehr etwas
Unbestimmtes und Bildliches als etwas klar und anschaulich
Definiertes bezeichnen.
In Anwendung der oben (§ 5) entwickelten Principien
definiere ich die innere Festigkeit einer Vorstellungsreihe, den
Grad ihres Haftens, durch die gröſsere oder geringere Bereit-
willigkeit, mit der sie zu einer bestimmten Zeit nach ihrer
ersten Einprägung ihrer Reproduktion entgegenkommt. Diese
Bereitwilligkeit messe ich an der Arbeitsersparnis, welche bei
dem Auswendiglernen der irgendwie haftenden Reihe statt-
findet, gegenüber derjenigen Arbeit, welche für eine gleich-
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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/88>, abgerufen am 16.02.2025.
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