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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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gleichartig. Bei den zunächst sich darbietenden Stoffen, Ge-
dichten oder Prosastücken, muss der bald erzählende, bald
beschreibende, bald reflektierende Inhalt, hier eine pathetische,
dort eine lächerliche Wendung, die Schönheit oder Härte der
Metaphern, die Glätte oder Eckigkeit von Rhythmus und Reim
eine Fülle von unregelmässig wechselnden und deshalb stören-
den Einflüssen ins Spiel bringen: hin- und herspielende Asso-
ciationen, verschiedene Grade der Anteilnahme, Rückerinne-
rungen an besonders treffende oder schöne Verse u. s. w.
Alles dies wird bei unseren Silben vermieden. Unter vielen
tausend Kombinationen begegnen kaum einige Dutzend, die
einen Sinn ergeben, und unter diesen wiederum nur einige
wenige, bei denen während des Lernens auch der Gedanke
an diesen Sinn geweckt wurde.

Freilich darf man die Einfachheit und Gleichartigkeit des
Materials nicht überschätzen; sie bleiben weit von dem ent-
fernt, was man zu erreichen wünschen möchte. Das Lernen
der Silben zieht immer noch drei Sinnesgebiete in Mitleiden-
schaft, das Auge, das Ohr und den Muskelsinn der Sprach-
organe. Und wenn auch diese in wohlumschriebener und
immer sehr ähnlicher Weise beteiligt werden, so wird man
doch wegen ihrer zusammengesetzten Beteiligung auch eine
gewisse Kompliciertheit der Resultate voraussehen müssen.
Namentlich aber bleibt die Gleichartigkeit der Silbenreihen
erheblich hinter dem zurück, was man in Betreff ihrer er-
warten würde; sie zeigen sehr bedeutende und fast unver-
ständliche Differenzen der Leichtigkeit und Schwierigkeit.
Ja es scheint beinahe, als ob unter diesem Gesichtspunkt die
Unterschiede zwischen sinnvollem und sinnlosem Material
praktisch bei weitem nicht so gross seien, als man a priori
geneigt ist, sich vorzustellen. Wenigstens fand ich bei dem
Auswendiglernen einiger Cantos von Byrons Don Juan ver-

gleichartig. Bei den zunächst sich darbietenden Stoffen, Ge-
dichten oder Prosastücken, muſs der bald erzählende, bald
beschreibende, bald reflektierende Inhalt, hier eine pathetische,
dort eine lächerliche Wendung, die Schönheit oder Härte der
Metaphern, die Glätte oder Eckigkeit von Rhythmus und Reim
eine Fülle von unregelmäſsig wechselnden und deshalb stören-
den Einflüssen ins Spiel bringen: hin- und herspielende Asso-
ciationen, verschiedene Grade der Anteilnahme, Rückerinne-
rungen an besonders treffende oder schöne Verse u. s. w.
Alles dies wird bei unseren Silben vermieden. Unter vielen
tausend Kombinationen begegnen kaum einige Dutzend, die
einen Sinn ergeben, und unter diesen wiederum nur einige
wenige, bei denen während des Lernens auch der Gedanke
an diesen Sinn geweckt wurde.

Freilich darf man die Einfachheit und Gleichartigkeit des
Materials nicht überschätzen; sie bleiben weit von dem ent-
fernt, was man zu erreichen wünschen möchte. Das Lernen
der Silben zieht immer noch drei Sinnesgebiete in Mitleiden-
schaft, das Auge, das Ohr und den Muskelsinn der Sprach-
organe. Und wenn auch diese in wohlumschriebener und
immer sehr ähnlicher Weise beteiligt werden, so wird man
doch wegen ihrer zusammengesetzten Beteiligung auch eine
gewisse Kompliciertheit der Resultate voraussehen müssen.
Namentlich aber bleibt die Gleichartigkeit der Silbenreihen
erheblich hinter dem zurück, was man in Betreff ihrer er-
warten würde; sie zeigen sehr bedeutende und fast unver-
ständliche Differenzen der Leichtigkeit und Schwierigkeit.
Ja es scheint beinahe, als ob unter diesem Gesichtspunkt die
Unterschiede zwischen sinnvollem und sinnlosem Material
praktisch bei weitem nicht so groſs seien, als man a priori
geneigt ist, sich vorzustellen. Wenigstens fand ich bei dem
Auswendiglernen einiger Cantos von Byrons Don Juan ver-

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[32/0048] gleichartig. Bei den zunächst sich darbietenden Stoffen, Ge- dichten oder Prosastücken, muſs der bald erzählende, bald beschreibende, bald reflektierende Inhalt, hier eine pathetische, dort eine lächerliche Wendung, die Schönheit oder Härte der Metaphern, die Glätte oder Eckigkeit von Rhythmus und Reim eine Fülle von unregelmäſsig wechselnden und deshalb stören- den Einflüssen ins Spiel bringen: hin- und herspielende Asso- ciationen, verschiedene Grade der Anteilnahme, Rückerinne- rungen an besonders treffende oder schöne Verse u. s. w. Alles dies wird bei unseren Silben vermieden. Unter vielen tausend Kombinationen begegnen kaum einige Dutzend, die einen Sinn ergeben, und unter diesen wiederum nur einige wenige, bei denen während des Lernens auch der Gedanke an diesen Sinn geweckt wurde. Freilich darf man die Einfachheit und Gleichartigkeit des Materials nicht überschätzen; sie bleiben weit von dem ent- fernt, was man zu erreichen wünschen möchte. Das Lernen der Silben zieht immer noch drei Sinnesgebiete in Mitleiden- schaft, das Auge, das Ohr und den Muskelsinn der Sprach- organe. Und wenn auch diese in wohlumschriebener und immer sehr ähnlicher Weise beteiligt werden, so wird man doch wegen ihrer zusammengesetzten Beteiligung auch eine gewisse Kompliciertheit der Resultate voraussehen müssen. Namentlich aber bleibt die Gleichartigkeit der Silbenreihen erheblich hinter dem zurück, was man in Betreff ihrer er- warten würde; sie zeigen sehr bedeutende und fast unver- ständliche Differenzen der Leichtigkeit und Schwierigkeit. Ja es scheint beinahe, als ob unter diesem Gesichtspunkt die Unterschiede zwischen sinnvollem und sinnlosem Material praktisch bei weitem nicht so groſs seien, als man a priori geneigt ist, sich vorzustellen. Wenigstens fand ich bei dem Auswendiglernen einiger Cantos von Byrons Don Juan ver-

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/48>, abgerufen am 29.03.2024.