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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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Für andere* erleiden die Vorstellungen, die zurückblei-
benden Phantasiebilder, allerdings eine ihr Wesen mehr und
mehr tangierende Veränderung; der Begriff der Verdunkelung
ist hier massgebend. Ältere Vorstellungen werden durch
jüngere gewissermassen zurückgedrängt und zum Sinken ge-
bracht; sie erleiden mit zunehmender Zeit immer grösseren
Schaden an einer allen gemeinsamen Eigenschaft, nämlich
an innerer Klarheit und Bewusstseinsintensität. Verbindungen
und Reihen von Vorstellungen unterliegen demselben Prozess
wachsender Schwächung; unterstützt wird derselbe bei ihnen
noch durch eine Auflösung in ihre Teile; dadurch nämlich,
dass die nur noch locker zusammengehaltenen Glieder even-
tuell gleichzeitig in neue Verbindungen eingefügt werden.
Das völlige Entschwinden des mehr und mehr Zurück-
gedrängten tritt erst nach langer Zeit ein. Während der
allmählich zunehmenden Verdunkelung aber sind die zurück-
gedrängten Vorstellungen nicht eigentlich als abgeblasste Bilder
vorhanden zu denken, sondern als Strebungen, als "Disposi-
tionen" zur Wiedererzeugung eben der Vorstellungsinhalte,

une infinite de traits anterieurs, surchargee plus tard d'une autre infinite
de lineaments de toute nature, mais dont l'ecriture est neanmoins inde-
finiment susceptible de reparaeitre vive et nette au jour." Er fährt zwar
weiterhin fort: "neanmoins . . il y a quelque verite dans l'opinion qui
veut que la memoire non seulement se fatigue mais s'oblitere", erklärt
dies aber daraus, dass eine Erinnerung die andere an ihrem Wieder-
hervortreten verhindern könne. "Si un souvenir ne chasse pas l'autre on
peut du moins pretendre qu'un souvenir empeche l'autre et qu'ainsi pour
la substance cerebrale, chez l'individu, il y a un maximum de saturation."
Auch die merkwürdige und weder physiologisch noch psychologisch
auszudenkende Hypothese Bains und anderer von der Besetzung einzelner
Ganglienzellen durch einzelne Vorstellungen wurzelt in gewisser Hinsicht
in der aristotelischen Auffassung.
* Herbart und seine Anhänger. Siehe z. B. Waitz, Lehrbuch der
Psychologie § 16.

Für andere* erleiden die Vorstellungen, die zurückblei-
benden Phantasiebilder, allerdings eine ihr Wesen mehr und
mehr tangierende Veränderung; der Begriff der Verdunkelung
ist hier maſsgebend. Ältere Vorstellungen werden durch
jüngere gewissermaſsen zurückgedrängt und zum Sinken ge-
bracht; sie erleiden mit zunehmender Zeit immer gröſseren
Schaden an einer allen gemeinsamen Eigenschaft, nämlich
an innerer Klarheit und Bewuſstseinsintensität. Verbindungen
und Reihen von Vorstellungen unterliegen demselben Prozeſs
wachsender Schwächung; unterstützt wird derselbe bei ihnen
noch durch eine Auflösung in ihre Teile; dadurch nämlich,
daſs die nur noch locker zusammengehaltenen Glieder even-
tuell gleichzeitig in neue Verbindungen eingefügt werden.
Das völlige Entschwinden des mehr und mehr Zurück-
gedrängten tritt erst nach langer Zeit ein. Während der
allmählich zunehmenden Verdunkelung aber sind die zurück-
gedrängten Vorstellungen nicht eigentlich als abgeblaſste Bilder
vorhanden zu denken, sondern als Strebungen, als „Disposi-
tionen“ zur Wiedererzeugung eben der Vorstellungsinhalte,

une infinité de traits antérieurs, surchargée plus tard d’une autre infinité
de linéaments de toute nature, mais dont l’écriture est néanmoins indé-
finiment susceptible de reparaître vive et nette au jour.“ Er fährt zwar
weiterhin fort: „néanmoins . . il y a quelque vérité dans l’opinion qui
veut que la mémoire non seulement se fatigue mais s’oblitère“, erklärt
dies aber daraus, daſs eine Erinnerung die andere an ihrem Wieder-
hervortreten verhindern könne. „Si un souvenir ne chasse pas l’autre on
peut du moins prétendre qu’un souvenir empêche l’autre et qu’ainsi pour
la substance cérébrale, chez l’individu, il y a un maximum de saturation.“
Auch die merkwürdige und weder physiologisch noch psychologisch
auszudenkende Hypothese Bains und anderer von der Besetzung einzelner
Ganglienzellen durch einzelne Vorstellungen wurzelt in gewisser Hinsicht
in der aristotelischen Auffassung.
* Herbart und seine Anhänger. Siehe z. B. Waitz, Lehrbuch der
Psychologie § 16.
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[87/0103] Für andere * erleiden die Vorstellungen, die zurückblei- benden Phantasiebilder, allerdings eine ihr Wesen mehr und mehr tangierende Veränderung; der Begriff der Verdunkelung ist hier maſsgebend. Ältere Vorstellungen werden durch jüngere gewissermaſsen zurückgedrängt und zum Sinken ge- bracht; sie erleiden mit zunehmender Zeit immer gröſseren Schaden an einer allen gemeinsamen Eigenschaft, nämlich an innerer Klarheit und Bewuſstseinsintensität. Verbindungen und Reihen von Vorstellungen unterliegen demselben Prozeſs wachsender Schwächung; unterstützt wird derselbe bei ihnen noch durch eine Auflösung in ihre Teile; dadurch nämlich, daſs die nur noch locker zusammengehaltenen Glieder even- tuell gleichzeitig in neue Verbindungen eingefügt werden. Das völlige Entschwinden des mehr und mehr Zurück- gedrängten tritt erst nach langer Zeit ein. Während der allmählich zunehmenden Verdunkelung aber sind die zurück- gedrängten Vorstellungen nicht eigentlich als abgeblaſste Bilder vorhanden zu denken, sondern als Strebungen, als „Disposi- tionen“ zur Wiedererzeugung eben der Vorstellungsinhalte, * * Herbart und seine Anhänger. Siehe z. B. Waitz, Lehrbuch der Psychologie § 16. * une infinité de traits antérieurs, surchargée plus tard d’une autre infinité de linéaments de toute nature, mais dont l’écriture est néanmoins indé- finiment susceptible de reparaître vive et nette au jour.“ Er fährt zwar weiterhin fort: „néanmoins . . il y a quelque vérité dans l’opinion qui veut que la mémoire non seulement se fatigue mais s’oblitère“, erklärt dies aber daraus, daſs eine Erinnerung die andere an ihrem Wieder- hervortreten verhindern könne. „Si un souvenir ne chasse pas l’autre on peut du moins prétendre qu’un souvenir empêche l’autre et qu’ainsi pour la substance cérébrale, chez l’individu, il y a un maximum de saturation.“ Auch die merkwürdige und weder physiologisch noch psychologisch auszudenkende Hypothese Bains und anderer von der Besetzung einzelner Ganglienzellen durch einzelne Vorstellungen wurzelt in gewisser Hinsicht in der aristotelischen Auffassung.

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/103>, abgerufen am 02.05.2024.