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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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seiner forgsam erwägenden Weise die Absurditäten geschildert,
zu welchen ein zu weit getriebener Altruismus führen müßte*).
Comte's Grand-Etre ist ein vampyrartiger Popanz, noch
schlimmer als der alte Gott. Er nimmt den ganzen Menschen
gefangen, fordert die äußersten Opfer von ihm, das Jndivi-
duum existirt ihm gegenüber überhaupt nicht.

Trotz Comte's Versicherung, daß die Blüthe der Kunst
erst in der neuen Religionsära eintreten werde, fürchten
wir, daß die Kunst dann im Gegentheile schwerlich gedeihen
würde. Noch schlimmer wohl stünde es um die Wissenschaft.
Weder der Kunst noch der Wissenschaft darf ein anderer Zweck
untergeschoben werden, als in ihrem Begriffe enthalten ist.
Ergibt sich aus den Schöpfungen der Kunst oder aus den
Entdeckungen der Wissenschaft noch ein Nutzen für die Mensch-
heit, so um so besser, allein der Nutzen darf nicht von vorn-
herein beabsichtigt sein. So lange es echte Künstler und
Forscher geben wird, wird die Liebe zur Kunst beziehungsweise
zur Wissenschaft in ihnen die treibende Kraft sein, die Rück-
sicht auf das Wohl der Menschheit erst in zweiter Linie sich
geltend machen dürfen.

Und sehen wir uns Comte's Grand-Etre, dem der Ein-
zelne sich zu eigen geben soll, etwas genauer an. Kann
dasselbe denn wirklich als eine höchste Jdee hingestellt werden,
dem das Jndividuum sich mit allen seinen Kräften opfern
soll? Es klingt zwar sehr schön, was J. St. Mill in Be-
zug auf die Menschheitsidee Comte's sagt**): "Die Bedeu-
tung, welche die Jdee des allgemeinen Menschenwohls für
das Gemüths- wie für das praktische Leben des Menschen
gewinnen kann, ist schon Vielen klar geworden, doch wüßten

*) Thatsachen der Ethik (deutsch von B. Vetter, Stuttgart 1879),
p. 204 ff.
**) A. Comte und der Positivismus. S. gesammelte Werke
herausgegeben von Th. Gomperz. Bd. IX, p. 96 fl.

ſeiner forgſam erwägenden Weiſe die Abſurditäten geſchildert,
zu welchen ein zu weit getriebener Altruismus führen müßte*).
Comte’s Grand-Être iſt ein vampyrartiger Popanz, noch
ſchlimmer als der alte Gott. Er nimmt den ganzen Menſchen
gefangen, fordert die äußerſten Opfer von ihm, das Jndivi-
duum exiſtirt ihm gegenüber überhaupt nicht.

Trotz Comte’s Verſicherung, daß die Blüthe der Kunſt
erſt in der neuen Religionsära eintreten werde, fürchten
wir, daß die Kunſt dann im Gegentheile ſchwerlich gedeihen
würde. Noch ſchlimmer wohl ſtünde es um die Wiſſenſchaft.
Weder der Kunſt noch der Wiſſenſchaft darf ein anderer Zweck
untergeſchoben werden, als in ihrem Begriffe enthalten iſt.
Ergibt ſich aus den Schöpfungen der Kunſt oder aus den
Entdeckungen der Wiſſenſchaft noch ein Nutzen für die Menſch-
heit, ſo um ſo beſſer, allein der Nutzen darf nicht von vorn-
herein beabſichtigt ſein. So lange es echte Künſtler und
Forſcher geben wird, wird die Liebe zur Kunſt beziehungsweiſe
zur Wiſſenſchaft in ihnen die treibende Kraft ſein, die Rück-
ſicht auf das Wohl der Menſchheit erſt in zweiter Linie ſich
geltend machen dürfen.

Und ſehen wir uns Comte’s Grand-Être, dem der Ein-
zelne ſich zu eigen geben ſoll, etwas genauer an. Kann
daſſelbe denn wirklich als eine höchſte Jdee hingeſtellt werden,
dem das Jndividuum ſich mit allen ſeinen Kräften opfern
ſoll? Es klingt zwar ſehr ſchön, was J. St. Mill in Be-
zug auf die Menſchheitsidee Comte’s ſagt**): „Die Bedeu-
tung, welche die Jdee des allgemeinen Menſchenwohls für
das Gemüths- wie für das praktiſche Leben des Menſchen
gewinnen kann, iſt ſchon Vielen klar geworden, doch wüßten

*) Thatſachen der Ethik (deutſch von B. Vetter, Stuttgart 1879),
p. 204 ff.
**) A. Comte und der Poſitivismus. S. geſammelte Werke
herausgegeben von Th. Gomperz. Bd. IX, p. 96 fl.
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[24/0033] ſeiner forgſam erwägenden Weiſe die Abſurditäten geſchildert, zu welchen ein zu weit getriebener Altruismus führen müßte *). Comte’s Grand-Être iſt ein vampyrartiger Popanz, noch ſchlimmer als der alte Gott. Er nimmt den ganzen Menſchen gefangen, fordert die äußerſten Opfer von ihm, das Jndivi- duum exiſtirt ihm gegenüber überhaupt nicht. Trotz Comte’s Verſicherung, daß die Blüthe der Kunſt erſt in der neuen Religionsära eintreten werde, fürchten wir, daß die Kunſt dann im Gegentheile ſchwerlich gedeihen würde. Noch ſchlimmer wohl ſtünde es um die Wiſſenſchaft. Weder der Kunſt noch der Wiſſenſchaft darf ein anderer Zweck untergeſchoben werden, als in ihrem Begriffe enthalten iſt. Ergibt ſich aus den Schöpfungen der Kunſt oder aus den Entdeckungen der Wiſſenſchaft noch ein Nutzen für die Menſch- heit, ſo um ſo beſſer, allein der Nutzen darf nicht von vorn- herein beabſichtigt ſein. So lange es echte Künſtler und Forſcher geben wird, wird die Liebe zur Kunſt beziehungsweiſe zur Wiſſenſchaft in ihnen die treibende Kraft ſein, die Rück- ſicht auf das Wohl der Menſchheit erſt in zweiter Linie ſich geltend machen dürfen. Und ſehen wir uns Comte’s Grand-Être, dem der Ein- zelne ſich zu eigen geben ſoll, etwas genauer an. Kann daſſelbe denn wirklich als eine höchſte Jdee hingeſtellt werden, dem das Jndividuum ſich mit allen ſeinen Kräften opfern ſoll? Es klingt zwar ſehr ſchön, was J. St. Mill in Be- zug auf die Menſchheitsidee Comte’s ſagt **): „Die Bedeu- tung, welche die Jdee des allgemeinen Menſchenwohls für das Gemüths- wie für das praktiſche Leben des Menſchen gewinnen kann, iſt ſchon Vielen klar geworden, doch wüßten *) Thatſachen der Ethik (deutſch von B. Vetter, Stuttgart 1879), p. 204 ff. **) A. Comte und der Poſitivismus. S. geſammelte Werke herausgegeben von Th. Gomperz. Bd. IX, p. 96 fl.

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/33>, abgerufen am 24.04.2024.