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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in ver-
mittelter Weise vorliegen, dass wir nicht "objectiv" die Vergangenheiten,
sondern nur aus den "Quellen" eine Auffassung, eine Anschauung, ein
Gegenbild von ihnen herstellen können, dass die so gewinnbaren und
gewonnenen Auffassungen und Anschauungen Alles sind, was uns von
der Vergangenheit zu wissen möglich ist, dass also "die Geschichte"
nicht äusserlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht
und so gewusst da ist -- das muss, so scheint es, der Ausgangspunkt
sein, wenn man aufhören will in der Historie zu naturalisiren.

Was uns zur Erforschung vorliegt, sind nicht die Vergangenheiten,
sondern theils Ueberreste aus ihnen, theils Auffassungen von ihnen;
Ueberreste, die nur für die historische Betrachtung Ueberreste sind, in
der That aber inmitten der Gegenwart stehen; manche trümmerhaft und
verwittert wie sie sind, sofort daran erinnernd, dass sie einst anders,
lebendiger, bedeutsamer waren, als sie jetzt sind; andere umgeformt und
noch in lebendig praktischer Verwendung; andere auch wohl bis zur
Unkenntlichkeit verändert und eingeschmolzen in das Sein und Leben
der Gegenwart; ja diese selbst ist nichts anderes als die Summe
aller Reste und Ergebnisse der Vergangenheit. Sodann Auffassungen
dessen, was war und geschah, nicht immer von Nahestehenden, Kundi-
gen oder Unbetheiligten, oft Auffassungen von Auffassungen aus dritter,
vierter Hand; und selbst wenn Nahestehende berichten, was ihrer Zeit
geschehen, was haben sie denn selbst davon mit angesehen, mit ange-
hört? und auch das eigene Sehen und Hören fasst doch nur einen Theil,
nur eine Seite, eine Richtung der Geschehnisse auf u. s. w.

Der methodische Charakter dieser beiden Arten von Materialien ist
so ausserordentlich verschieden, dass man wohl thut, ihn auch in der
technischen Bezeichnung zu unterscheiden; und es empfiehlt sich, die-
jenigen, die Quellen sein wollen, auch Quellen zu nennen, wenn sie
auch in anderer Hinsicht gleich den Anderen Ueberreste sind, litera-
rische Ueberreste der Zeit, in der sie entstanden.

Die jetzt übliche Methode oder Technik der historischen Forschung
hat sich aus dem Studium solcher Zeiten entwickelt, aus denen wenig-
stens für die politische Geschichte nichts oder wenig mehr als derartige
Auffassungen von mehr oder minder gleichzeitigen Darstellern vorliegen.
Vieles, wonach wir fragen und forschen möchten, ist da gar nicht

uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in ver-
mittelter Weise vorliegen, dass wir nicht „objectiv“ die Vergangenheiten,
sondern nur aus den „Quellen“ eine Auffassung, eine Anschauung, ein
Gegenbild von ihnen herstellen können, dass die so gewinnbaren und
gewonnenen Auffassungen und Anschauungen Alles sind, was uns von
der Vergangenheit zu wissen möglich ist, dass also „die Geschichte“
nicht äusserlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht
und so gewusst da ist — das muss, so scheint es, der Ausgangspunkt
sein, wenn man aufhören will in der Historie zu naturalisiren.

Was uns zur Erforschung vorliegt, sind nicht die Vergangenheiten,
sondern theils Ueberreste aus ihnen, theils Auffassungen von ihnen;
Ueberreste, die nur für die historische Betrachtung Ueberreste sind, in
der That aber inmitten der Gegenwart stehen; manche trümmerhaft und
verwittert wie sie sind, sofort daran erinnernd, dass sie einst anders,
lebendiger, bedeutsamer waren, als sie jetzt sind; andere umgeformt und
noch in lebendig praktischer Verwendung; andere auch wohl bis zur
Unkenntlichkeit verändert und eingeschmolzen in das Sein und Leben
der Gegenwart; ja diese selbst ist nichts anderes als die Summe
aller Reste und Ergebnisse der Vergangenheit. Sodann Auffassungen
dessen, was war und geschah, nicht immer von Nahestehenden, Kundi-
gen oder Unbetheiligten, oft Auffassungen von Auffassungen aus dritter,
vierter Hand; und selbst wenn Nahestehende berichten, was ihrer Zeit
geschehen, was haben sie denn selbst davon mit angesehen, mit ange-
hört? und auch das eigene Sehen und Hören fasst doch nur einen Theil,
nur eine Seite, eine Richtung der Geschehnisse auf u. s. w.

Der methodische Charakter dieser beiden Arten von Materialien ist
so ausserordentlich verschieden, dass man wohl thut, ihn auch in der
technischen Bezeichnung zu unterscheiden; und es empfiehlt sich, die-
jenigen, die Quellen sein wollen, auch Quellen zu nennen, wenn sie
auch in anderer Hinsicht gleich den Anderen Ueberreste sind, litera-
rische Ueberreste der Zeit, in der sie entstanden.

Die jetzt übliche Methode oder Technik der historischen Forschung
hat sich aus dem Studium solcher Zeiten entwickelt, aus denen wenig-
stens für die politische Geschichte nichts oder wenig mehr als derartige
Auffassungen von mehr oder minder gleichzeitigen Darstellern vorliegen.
Vieles, wonach wir fragen und forschen möchten, ist da gar nicht

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[80/0089] uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in ver- mittelter Weise vorliegen, dass wir nicht „objectiv“ die Vergangenheiten, sondern nur aus den „Quellen“ eine Auffassung, eine Anschauung, ein Gegenbild von ihnen herstellen können, dass die so gewinnbaren und gewonnenen Auffassungen und Anschauungen Alles sind, was uns von der Vergangenheit zu wissen möglich ist, dass also „die Geschichte“ nicht äusserlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewusst da ist — das muss, so scheint es, der Ausgangspunkt sein, wenn man aufhören will in der Historie zu naturalisiren. Was uns zur Erforschung vorliegt, sind nicht die Vergangenheiten, sondern theils Ueberreste aus ihnen, theils Auffassungen von ihnen; Ueberreste, die nur für die historische Betrachtung Ueberreste sind, in der That aber inmitten der Gegenwart stehen; manche trümmerhaft und verwittert wie sie sind, sofort daran erinnernd, dass sie einst anders, lebendiger, bedeutsamer waren, als sie jetzt sind; andere umgeformt und noch in lebendig praktischer Verwendung; andere auch wohl bis zur Unkenntlichkeit verändert und eingeschmolzen in das Sein und Leben der Gegenwart; ja diese selbst ist nichts anderes als die Summe aller Reste und Ergebnisse der Vergangenheit. Sodann Auffassungen dessen, was war und geschah, nicht immer von Nahestehenden, Kundi- gen oder Unbetheiligten, oft Auffassungen von Auffassungen aus dritter, vierter Hand; und selbst wenn Nahestehende berichten, was ihrer Zeit geschehen, was haben sie denn selbst davon mit angesehen, mit ange- hört? und auch das eigene Sehen und Hören fasst doch nur einen Theil, nur eine Seite, eine Richtung der Geschehnisse auf u. s. w. Der methodische Charakter dieser beiden Arten von Materialien ist so ausserordentlich verschieden, dass man wohl thut, ihn auch in der technischen Bezeichnung zu unterscheiden; und es empfiehlt sich, die- jenigen, die Quellen sein wollen, auch Quellen zu nennen, wenn sie auch in anderer Hinsicht gleich den Anderen Ueberreste sind, litera- rische Ueberreste der Zeit, in der sie entstanden. Die jetzt übliche Methode oder Technik der historischen Forschung hat sich aus dem Studium solcher Zeiten entwickelt, aus denen wenig- stens für die politische Geschichte nichts oder wenig mehr als derartige Auffassungen von mehr oder minder gleichzeitigen Darstellern vorliegen. Vieles, wonach wir fragen und forschen möchten, ist da gar nicht

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/89>, abgerufen am 22.11.2024.