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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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rührend und doch los von ihr, das Erdrund umfluthet, und deren
Bestandtheile Vorstellungen, Gedanken, Leidenschaften, Irrthümer,
Schuld u. s. w. sind.

Man denkt nicht zu gering von der sittlichen Welt, wenn man ihren
Gestaltungen diese rastlos fluthende und schwellende Schicht geistigen
Seins als ihre Stätte, ihren Boden, als die so zu sagen plastische Masse
ihres Gestaltens zuschreibt. Und sie sind wahrlich darum nicht von
geringerer Realität, von minder objectiver Macht, weil sie wesentlich
nur im Geist und Herzen der Menschen, in ihrem Wissen und Gewissen
lebendig sind, den Körper und das Körperliche nur zu ihrem Ausdruck
und Abdruck verwenden.

Freilich nur in diesen Ausdrücken und Abdrücken werden sie ver-
nehmbar, verstehbar, erforschbar. Sie sind nicht blos dazu da, dass
die historische Methode auf sie angewendet werde; sie können, auch
wissenschaftlich, noch nach anderen Gesichtspunkten als dem historischen
betrachtet werden. Aber wie sie sind, sind sie geworden; und aus ihrem
Sein ihr Werden zu erschliessen, aus ihrem Werden ihr Sein zu ver-
stehen, ist das Wesen der historischen Methode.


Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Abwehr. Es fällt Niemanden
ein, der Physik den Namen der Wissenschaft zu bestreiten oder an ihren
wissenschaftlichen Ergebnissen zu zweifeln, obschon sie nicht die Natur,
sondern eine Betrachtungsweise der Natur ist, oder der Mathe-
matik daraus einen Vorwurf zu machen, dass ihr ganzes stolzes Gebäude
nur innerhalb des wissenden Geistes steht. Unsere kluge Sprache bildet
aus dem Participium des Wortes "wissen" die Bezeichnung dessen, was
"gewiss" ist; sie nennt nicht das äusserliche und sogenannte objective
Sein der Dinge gewiss, sondern das gewusste Seiende, das gewusste Ge-
schehene. Nicht was in sinnlicher Wahrnehmbarkeit an uns herantritt,
ist unsrer Sprache nach wahr; es giebt sich nicht als wahr, sondern
wir nehmen es wahr, und machen es durch unser Wissen gewiss.

Unser Wahrnehmen, unser Wissen; es läge darin der bedenk-
lichste Subjectivismus, wenn die Menschenwelt aus Atomen bestände,
deren jedes seine Spanne Raum und Zeit erfüllte, zusammenhanglos
wie begonnen so zerronnen, -- aus atomistischen Menschen, wie der

rührend und doch los von ihr, das Erdrund umfluthet, und deren
Bestandtheile Vorstellungen, Gedanken, Leidenschaften, Irrthümer,
Schuld u. s. w. sind.

Man denkt nicht zu gering von der sittlichen Welt, wenn man ihren
Gestaltungen diese rastlos fluthende und schwellende Schicht geistigen
Seins als ihre Stätte, ihren Boden, als die so zu sagen plastische Masse
ihres Gestaltens zuschreibt. Und sie sind wahrlich darum nicht von
geringerer Realität, von minder objectiver Macht, weil sie wesentlich
nur im Geist und Herzen der Menschen, in ihrem Wissen und Gewissen
lebendig sind, den Körper und das Körperliche nur zu ihrem Ausdruck
und Abdruck verwenden.

Freilich nur in diesen Ausdrücken und Abdrücken werden sie ver-
nehmbar, verstehbar, erforschbar. Sie sind nicht blos dazu da, dass
die historische Methode auf sie angewendet werde; sie können, auch
wissenschaftlich, noch nach anderen Gesichtspunkten als dem historischen
betrachtet werden. Aber wie sie sind, sind sie geworden; und aus ihrem
Sein ihr Werden zu erschliessen, aus ihrem Werden ihr Sein zu ver-
stehen, ist das Wesen der historischen Methode.


Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Abwehr. Es fällt Niemanden
ein, der Physik den Namen der Wissenschaft zu bestreiten oder an ihren
wissenschaftlichen Ergebnissen zu zweifeln, obschon sie nicht die Natur,
sondern eine Betrachtungsweise der Natur ist, oder der Mathe-
matik daraus einen Vorwurf zu machen, dass ihr ganzes stolzes Gebäude
nur innerhalb des wissenden Geistes steht. Unsere kluge Sprache bildet
aus dem Participium des Wortes „wissen“ die Bezeichnung dessen, was
„gewiss“ ist; sie nennt nicht das äusserliche und sogenannte objective
Sein der Dinge gewiss, sondern das gewusste Seiende, das gewusste Ge-
schehene. Nicht was in sinnlicher Wahrnehmbarkeit an uns herantritt,
ist unsrer Sprache nach wahr; es giebt sich nicht als wahr, sondern
wir nehmen es wahr, und machen es durch unser Wissen gewiss.

Unser Wahrnehmen, unser Wissen; es läge darin der bedenk-
lichste Subjectivismus, wenn die Menschenwelt aus Atomen bestände,
deren jedes seine Spanne Raum und Zeit erfüllte, zusammenhanglos
wie begonnen so zerronnen, — aus atomistischen Menschen, wie der

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[72/0081] rührend und doch los von ihr, das Erdrund umfluthet, und deren Bestandtheile Vorstellungen, Gedanken, Leidenschaften, Irrthümer, Schuld u. s. w. sind. Man denkt nicht zu gering von der sittlichen Welt, wenn man ihren Gestaltungen diese rastlos fluthende und schwellende Schicht geistigen Seins als ihre Stätte, ihren Boden, als die so zu sagen plastische Masse ihres Gestaltens zuschreibt. Und sie sind wahrlich darum nicht von geringerer Realität, von minder objectiver Macht, weil sie wesentlich nur im Geist und Herzen der Menschen, in ihrem Wissen und Gewissen lebendig sind, den Körper und das Körperliche nur zu ihrem Ausdruck und Abdruck verwenden. Freilich nur in diesen Ausdrücken und Abdrücken werden sie ver- nehmbar, verstehbar, erforschbar. Sie sind nicht blos dazu da, dass die historische Methode auf sie angewendet werde; sie können, auch wissenschaftlich, noch nach anderen Gesichtspunkten als dem historischen betrachtet werden. Aber wie sie sind, sind sie geworden; und aus ihrem Sein ihr Werden zu erschliessen, aus ihrem Werden ihr Sein zu ver- stehen, ist das Wesen der historischen Methode. Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Abwehr. Es fällt Niemanden ein, der Physik den Namen der Wissenschaft zu bestreiten oder an ihren wissenschaftlichen Ergebnissen zu zweifeln, obschon sie nicht die Natur, sondern eine Betrachtungsweise der Natur ist, oder der Mathe- matik daraus einen Vorwurf zu machen, dass ihr ganzes stolzes Gebäude nur innerhalb des wissenden Geistes steht. Unsere kluge Sprache bildet aus dem Participium des Wortes „wissen“ die Bezeichnung dessen, was „gewiss“ ist; sie nennt nicht das äusserliche und sogenannte objective Sein der Dinge gewiss, sondern das gewusste Seiende, das gewusste Ge- schehene. Nicht was in sinnlicher Wahrnehmbarkeit an uns herantritt, ist unsrer Sprache nach wahr; es giebt sich nicht als wahr, sondern wir nehmen es wahr, und machen es durch unser Wissen gewiss. Unser Wahrnehmen, unser Wissen; es läge darin der bedenk- lichste Subjectivismus, wenn die Menschenwelt aus Atomen bestände, deren jedes seine Spanne Raum und Zeit erfüllte, zusammenhanglos wie begonnen so zerronnen, — aus atomistischen Menschen, wie der

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/81>, abgerufen am 25.11.2024.