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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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den Kaufkontract, der heut zwischen Privaten abgeschlossen wird, ein
Jahrtausend zu einer geschichtlichen Urkunde?

Jedermann sagt, dass die Geschichte ein wichtiges Bildungsmittel
sei; sie ist ein wichtiger Bestandtheil des heutigen Unterrichts. Aber
warum ist sie es? in welcher Form? war sie es den Griechen der Peri-
kleischen Zeit nicht, oder nur in andrer Form? etwa in der der Home-
rischen Gesänge? und wie können nationale Gedichte den Griechen, dem
Hohenstaufischen Deutschland den pädagogischen Werth des geschicht-
lichen Unterrichts gehabt haben?

Die Beobachtung der Gegenwart lehrt uns, wie jede Thatsache
von andern Gesichtspunkten aus anders aufgefasst, erzählt, in Zusam-
menhang gestellt wird, wie jede Handlung -- im privaten Leben nicht
minder wie im öffentlichen -- die verschiedenartigsten Deutungen er-
fährt. Der vorsichtig Urtheilende wird Mühe haben, aus der Fülle so
verschiedener Angaben ein nur einigermassen sichres und festes Bild
des Geschehenen, des Gewollten zu gewinnen. Wird das Urtheil nach
hundert Jahren aus der schon geminderten Masse von Materialien
sicherer zu finden sein? führt die Quellenkritik zu mehr als zu einer
Herstellung einstmaliger Auffassungen? führt sie zur "reinen Thatsache?"

Und wenn es so um den "objectiven" Inhalt der Geschichte steht,
was wird dann aus der geschichtlichen Wahrheit? giebt es eine Wahr-
heit ohne Richtigkeit? behalten diejenigen Recht, welche die Geschichte
überhaupt als eine fable convenue bezeichnen?

Ein gewisses natürliches Gefühl und die unzweifelhafte Ueberein-
stimmung aller Zeiten sagt uns, dass dem nicht so sei, dass in den
menschlichen Dingen ein Zusammenhang, eine Wahrheit, eine Macht
sei, die, je grösser und geheimnissvoller sie ist, desto mehr den Geist
herausfordert, sie kennen zu lernen und zu ergründen.

Sofort schloss sich hier eine zweite Reihe von Fragen an, Fragen
über das Verhältniss des Einzelnen zu dieser Macht der Geschichte,
über seine Stellung zwischen ihr und den sittlichen Mächten, die ihn
erfüllen und tragen, über seine Pflichten und seine höchste Pflicht;
Betrachtungen, die weit über den unmittelbaren Bereich unseres Studiums
hinausführten und die Gewissheit erzeugen mussten, dass deren Auf-
gabe nicht anders als in den grossen und grössten Zusammenhängen
gefasst zu erörtern sei. Konnte der Versuch gewagt werden, diese

den Kaufkontract, der heut zwischen Privaten abgeschlossen wird, ein
Jahrtausend zu einer geschichtlichen Urkunde?

Jedermann sagt, dass die Geschichte ein wichtiges Bildungsmittel
sei; sie ist ein wichtiger Bestandtheil des heutigen Unterrichts. Aber
warum ist sie es? in welcher Form? war sie es den Griechen der Peri-
kleischen Zeit nicht, oder nur in andrer Form? etwa in der der Home-
rischen Gesänge? und wie können nationale Gedichte den Griechen, dem
Hohenstaufischen Deutschland den pädagogischen Werth des geschicht-
lichen Unterrichts gehabt haben?

Die Beobachtung der Gegenwart lehrt uns, wie jede Thatsache
von andern Gesichtspunkten aus anders aufgefasst, erzählt, in Zusam-
menhang gestellt wird, wie jede Handlung — im privaten Leben nicht
minder wie im öffentlichen — die verschiedenartigsten Deutungen er-
fährt. Der vorsichtig Urtheilende wird Mühe haben, aus der Fülle so
verschiedener Angaben ein nur einigermassen sichres und festes Bild
des Geschehenen, des Gewollten zu gewinnen. Wird das Urtheil nach
hundert Jahren aus der schon geminderten Masse von Materialien
sicherer zu finden sein? führt die Quellenkritik zu mehr als zu einer
Herstellung einstmaliger Auffassungen? führt sie zur „reinen Thatsache?“

Und wenn es so um den „objectiven“ Inhalt der Geschichte steht,
was wird dann aus der geschichtlichen Wahrheit? giebt es eine Wahr-
heit ohne Richtigkeit? behalten diejenigen Recht, welche die Geschichte
überhaupt als eine fable convenue bezeichnen?

Ein gewisses natürliches Gefühl und die unzweifelhafte Ueberein-
stimmung aller Zeiten sagt uns, dass dem nicht so sei, dass in den
menschlichen Dingen ein Zusammenhang, eine Wahrheit, eine Macht
sei, die, je grösser und geheimnissvoller sie ist, desto mehr den Geist
herausfordert, sie kennen zu lernen und zu ergründen.

Sofort schloss sich hier eine zweite Reihe von Fragen an, Fragen
über das Verhältniss des Einzelnen zu dieser Macht der Geschichte,
über seine Stellung zwischen ihr und den sittlichen Mächten, die ihn
erfüllen und tragen, über seine Pflichten und seine höchste Pflicht;
Betrachtungen, die weit über den unmittelbaren Bereich unseres Studiums
hinausführten und die Gewissheit erzeugen mussten, dass deren Auf-
gabe nicht anders als in den grossen und grössten Zusammenhängen
gefasst zu erörtern sei. Konnte der Versuch gewagt werden, diese

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[5/0014] den Kaufkontract, der heut zwischen Privaten abgeschlossen wird, ein Jahrtausend zu einer geschichtlichen Urkunde? Jedermann sagt, dass die Geschichte ein wichtiges Bildungsmittel sei; sie ist ein wichtiger Bestandtheil des heutigen Unterrichts. Aber warum ist sie es? in welcher Form? war sie es den Griechen der Peri- kleischen Zeit nicht, oder nur in andrer Form? etwa in der der Home- rischen Gesänge? und wie können nationale Gedichte den Griechen, dem Hohenstaufischen Deutschland den pädagogischen Werth des geschicht- lichen Unterrichts gehabt haben? Die Beobachtung der Gegenwart lehrt uns, wie jede Thatsache von andern Gesichtspunkten aus anders aufgefasst, erzählt, in Zusam- menhang gestellt wird, wie jede Handlung — im privaten Leben nicht minder wie im öffentlichen — die verschiedenartigsten Deutungen er- fährt. Der vorsichtig Urtheilende wird Mühe haben, aus der Fülle so verschiedener Angaben ein nur einigermassen sichres und festes Bild des Geschehenen, des Gewollten zu gewinnen. Wird das Urtheil nach hundert Jahren aus der schon geminderten Masse von Materialien sicherer zu finden sein? führt die Quellenkritik zu mehr als zu einer Herstellung einstmaliger Auffassungen? führt sie zur „reinen Thatsache?“ Und wenn es so um den „objectiven“ Inhalt der Geschichte steht, was wird dann aus der geschichtlichen Wahrheit? giebt es eine Wahr- heit ohne Richtigkeit? behalten diejenigen Recht, welche die Geschichte überhaupt als eine fable convenue bezeichnen? Ein gewisses natürliches Gefühl und die unzweifelhafte Ueberein- stimmung aller Zeiten sagt uns, dass dem nicht so sei, dass in den menschlichen Dingen ein Zusammenhang, eine Wahrheit, eine Macht sei, die, je grösser und geheimnissvoller sie ist, desto mehr den Geist herausfordert, sie kennen zu lernen und zu ergründen. Sofort schloss sich hier eine zweite Reihe von Fragen an, Fragen über das Verhältniss des Einzelnen zu dieser Macht der Geschichte, über seine Stellung zwischen ihr und den sittlichen Mächten, die ihn erfüllen und tragen, über seine Pflichten und seine höchste Pflicht; Betrachtungen, die weit über den unmittelbaren Bereich unseres Studiums hinausführten und die Gewissheit erzeugen mussten, dass deren Auf- gabe nicht anders als in den grossen und grössten Zusammenhängen gefasst zu erörtern sei. Konnte der Versuch gewagt werden, diese

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/14>, abgerufen am 28.03.2024.