Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.Ich habe liebe Verwandte, Die tragen im Herzen das Leid; Allein wie dürfte verkümmern Ein Leben so Vielen geweiht? Sie haben sich eben bezwungen, Für andre Pflichten geschont, Nur schweben wohl meine Züge Zuweilen noch über den Mond. Ich habe Bruder und Schwester, Da ging in's Leben der Stich, Da sind viel Thränen geflossen Und viele Seufzer um mich. O hätten sie einsam gestanden, Ich lebte im ewigen Licht! Nun haben sie meines vergessen Um ihres Kindes Gesicht. Ich hab', ich hab' eine Mutter, Der kehr' ich im Traum bei Nacht, Die kann das Auge nicht schließen, Bis mein sie betend gedacht; Die sieht mich in jedem Grabe, Die hört mich im Rauschen des Hains, -- O vergessen kann eine Mutter Von zwanzig Kindern nicht eins. Ich habe liebe Verwandte, Die tragen im Herzen das Leid; Allein wie dürfte verkümmern Ein Leben ſo Vielen geweiht? Sie haben ſich eben bezwungen, Für andre Pflichten geſchont, Nur ſchweben wohl meine Züge Zuweilen noch über den Mond. Ich habe Bruder und Schweſter, Da ging in’s Leben der Stich, Da ſind viel Thränen gefloſſen Und viele Seufzer um mich. O hätten ſie einſam geſtanden, Ich lebte im ewigen Licht! Nun haben ſie meines vergeſſen Um ihres Kindes Geſicht. Ich hab’, ich hab’ eine Mutter, Der kehr’ ich im Traum bei Nacht, Die kann das Auge nicht ſchließen, Bis mein ſie betend gedacht; Die ſieht mich in jedem Grabe, Die hört mich im Rauſchen des Hains, — O vergeſſen kann eine Mutter Von zwanzig Kindern nicht eins. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0073" n="57"/> <lg n="6"> <l>Ich habe liebe Verwandte,</l><lb/> <l>Die tragen im Herzen das Leid;</l><lb/> <l>Allein wie dürfte verkümmern</l><lb/> <l>Ein Leben ſo Vielen geweiht?</l><lb/> <l>Sie haben ſich eben bezwungen,</l><lb/> <l>Für andre Pflichten geſchont,</l><lb/> <l>Nur ſchweben wohl meine Züge</l><lb/> <l>Zuweilen noch über den Mond.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Ich habe Bruder und Schweſter,</l><lb/> <l>Da ging in’s Leben der Stich,</l><lb/> <l>Da ſind viel Thränen gefloſſen</l><lb/> <l>Und viele Seufzer um mich.</l><lb/> <l>O hätten ſie einſam geſtanden,</l><lb/> <l>Ich lebte im ewigen Licht!</l><lb/> <l>Nun haben ſie meines vergeſſen</l><lb/> <l>Um ihres Kindes Geſicht.</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Ich hab’, ich hab’ eine Mutter,</l><lb/> <l>Der kehr’ ich im Traum bei Nacht,</l><lb/> <l>Die kann das Auge nicht ſchließen,</l><lb/> <l>Bis mein ſie betend gedacht;</l><lb/> <l>Die ſieht mich in jedem Grabe,</l><lb/> <l>Die hört mich im Rauſchen des Hains, —</l><lb/> <l>O vergeſſen kann eine Mutter</l><lb/> <l>Von zwanzig Kindern nicht eins.</l> </lg> </lg> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </body> </text> </TEI> [57/0073]
Ich habe liebe Verwandte,
Die tragen im Herzen das Leid;
Allein wie dürfte verkümmern
Ein Leben ſo Vielen geweiht?
Sie haben ſich eben bezwungen,
Für andre Pflichten geſchont,
Nur ſchweben wohl meine Züge
Zuweilen noch über den Mond.
Ich habe Bruder und Schweſter,
Da ging in’s Leben der Stich,
Da ſind viel Thränen gefloſſen
Und viele Seufzer um mich.
O hätten ſie einſam geſtanden,
Ich lebte im ewigen Licht!
Nun haben ſie meines vergeſſen
Um ihres Kindes Geſicht.
Ich hab’, ich hab’ eine Mutter,
Der kehr’ ich im Traum bei Nacht,
Die kann das Auge nicht ſchließen,
Bis mein ſie betend gedacht;
Die ſieht mich in jedem Grabe,
Die hört mich im Rauſchen des Hains, —
O vergeſſen kann eine Mutter
Von zwanzig Kindern nicht eins.
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