Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.Das Bild. 1. Sie steh'n vor deinem Bild und schauen In dein verschleiert Augenlicht, Sie prüfen Lippe, Kinn und Brauen Und sagen dann: du sei'st es nicht; Zu klar die Stirn, zu voll die Wange, Zu üppig in der Locken Hange, Ein lieblich, fremdes Angesicht. O wüßten sie es, wie ein treues Gemüth die kleinsten Züge hegt! Ein Zucken schon ein flücht'ges, scheues, Als Kleinod in die Seele legt. Wie schon ein Wort von gleichem Klange Gehaucht, dem Feinde selbst, das bange, Bewegte Herz entgegen trägt. Das Bild. 1. Sie ſteh’n vor deinem Bild und ſchauen In dein verſchleiert Augenlicht, Sie prüfen Lippe, Kinn und Brauen Und ſagen dann: du ſei’ſt es nicht; Zu klar die Stirn, zu voll die Wange, Zu üppig in der Locken Hange, Ein lieblich, fremdes Angeſicht. O wüßten ſie es, wie ein treues Gemüth die kleinſten Züge hegt! Ein Zucken ſchon ein flücht’ges, ſcheues, Als Kleinod in die Seele legt. Wie ſchon ein Wort von gleichem Klange Gehaucht, dem Feinde ſelbſt, das bange, Bewegte Herz entgegen trägt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0066" n="50"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Das Bild</hi>.</hi> </head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="3"> <head>1.</head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l><hi rendition="#in">S</hi>ie ſteh’n vor deinem Bild und ſchauen</l><lb/> <l>In dein verſchleiert Augenlicht,</l><lb/> <l>Sie prüfen Lippe, Kinn und Brauen</l><lb/> <l>Und ſagen dann: du ſei’ſt es nicht;</l><lb/> <l>Zu klar die Stirn, zu voll die Wange,</l><lb/> <l>Zu üppig in der Locken Hange,</l><lb/> <l>Ein lieblich, fremdes Angeſicht.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>O wüßten ſie es, wie ein treues</l><lb/> <l>Gemüth die kleinſten Züge hegt!</l><lb/> <l>Ein Zucken ſchon ein flücht’ges, ſcheues,</l><lb/> <l>Als Kleinod in die Seele legt.</l><lb/> <l>Wie ſchon ein Wort von gleichem Klange</l><lb/> <l>Gehaucht, dem Feinde ſelbſt, das bange,</l><lb/> <l>Bewegte Herz entgegen trägt.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0066]
Das Bild.
1.
Sie ſteh’n vor deinem Bild und ſchauen
In dein verſchleiert Augenlicht,
Sie prüfen Lippe, Kinn und Brauen
Und ſagen dann: du ſei’ſt es nicht;
Zu klar die Stirn, zu voll die Wange,
Zu üppig in der Locken Hange,
Ein lieblich, fremdes Angeſicht.
O wüßten ſie es, wie ein treues
Gemüth die kleinſten Züge hegt!
Ein Zucken ſchon ein flücht’ges, ſcheues,
Als Kleinod in die Seele legt.
Wie ſchon ein Wort von gleichem Klange
Gehaucht, dem Feinde ſelbſt, das bange,
Bewegte Herz entgegen trägt.
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