Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

warm. Man stieg auf den Söller, in den Keller,
stieß in's Stroh, schaute hinter jedes Faß, sogar in
den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in
den Garten, sahen hinter den Zaun und in die
Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden.

"Entwischt!" sagte der Gutsherr mit sehr ge-
mischten Gefühlen: der Anblick der alten Frau
wirkte gewaltig auf ihn. "Gebt den Schlüssel zu
jenem Koffer." -- Margreth antwortete nicht. --
"Gebt den Schlüssel!" wiederholte der Gutsherr,
und merkte jetzt erst, daß der Schlüssel steckte. Der
Inhalt des Koffers kam zum Vorschein; des Ent-
flohenen gute Sonntagskleider und seiner Mutter
ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit
schwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das
andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war
tief erschüttert. Ganz zu unterst auf dem Boden
des Koffers lag die silberne Uhr und einige Schrif-
ten von sehr leserlicher Hand, eine derselben von
einem Manne unterzeichnet, den man in starkem
Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte.
Herr von S. nahm sie mit zur Durchsicht, und
man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein
anderes Lebenszeichen von sich gegeben hätte, als
daß sie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den
Augen zwinkerte.

Im Schlosse angelangt, fand der Gutsherr

warm. Man ſtieg auf den Söller, in den Keller,
ſtieß in’s Stroh, ſchaute hinter jedes Faß, ſogar in
den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in
den Garten, ſahen hinter den Zaun und in die
Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden.

„Entwiſcht!“ ſagte der Gutsherr mit ſehr ge-
miſchten Gefühlen: der Anblick der alten Frau
wirkte gewaltig auf ihn. „Gebt den Schlüſſel zu
jenem Koffer.“ — Margreth antwortete nicht. —
„Gebt den Schlüſſel!“ wiederholte der Gutsherr,
und merkte jetzt erſt, daß der Schlüſſel ſteckte. Der
Inhalt des Koffers kam zum Vorſchein; des Ent-
flohenen gute Sonntagskleider und ſeiner Mutter
ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit
ſchwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das
andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war
tief erſchüttert. Ganz zu unterſt auf dem Boden
des Koffers lag die ſilberne Uhr und einige Schrif-
ten von ſehr leſerlicher Hand, eine derſelben von
einem Manne unterzeichnet, den man in ſtarkem
Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte.
Herr von S. nahm ſie mit zur Durchſicht, und
man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein
anderes Lebenszeichen von ſich gegeben hätte, als
daß ſie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den
Augen zwinkerte.

Im Schloſſe angelangt, fand der Gutsherr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0221" n="205"/>
warm. Man &#x017F;tieg auf den Söller, in den Keller,<lb/>
&#x017F;tieß in&#x2019;s Stroh, &#x017F;chaute hinter jedes Faß, &#x017F;ogar in<lb/>
den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in<lb/>
den Garten, &#x017F;ahen hinter den Zaun und in die<lb/>
Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Entwi&#x017F;cht!&#x201C; &#x017F;agte der Gutsherr mit &#x017F;ehr ge-<lb/>
mi&#x017F;chten Gefühlen: der Anblick der alten Frau<lb/>
wirkte gewaltig auf ihn. &#x201E;Gebt den Schlü&#x017F;&#x017F;el zu<lb/>
jenem Koffer.&#x201C; &#x2014; Margreth antwortete nicht. &#x2014;<lb/>
&#x201E;Gebt den Schlü&#x017F;&#x017F;el!&#x201C; wiederholte der Gutsherr,<lb/>
und merkte jetzt er&#x017F;t, daß der Schlü&#x017F;&#x017F;el &#x017F;teckte. Der<lb/>
Inhalt des Koffers kam zum Vor&#x017F;chein; des Ent-<lb/>
flohenen gute Sonntagskleider und &#x017F;einer Mutter<lb/>
ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit<lb/>
&#x017F;chwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das<lb/>
andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war<lb/>
tief er&#x017F;chüttert. Ganz zu unter&#x017F;t auf dem Boden<lb/>
des Koffers lag die &#x017F;ilberne Uhr und einige Schrif-<lb/>
ten von &#x017F;ehr le&#x017F;erlicher Hand, eine der&#x017F;elben von<lb/>
einem Manne unterzeichnet, den man in &#x017F;tarkem<lb/>
Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte.<lb/>
Herr von S. nahm &#x017F;ie mit zur Durch&#x017F;icht, und<lb/>
man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein<lb/>
anderes Lebenszeichen von &#x017F;ich gegeben hätte, als<lb/>
daß &#x017F;ie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den<lb/>
Augen zwinkerte.</p><lb/>
        <p>Im Schlo&#x017F;&#x017F;e angelangt, fand der Gutsherr<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0221] warm. Man ſtieg auf den Söller, in den Keller, ſtieß in’s Stroh, ſchaute hinter jedes Faß, ſogar in den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in den Garten, ſahen hinter den Zaun und in die Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden. „Entwiſcht!“ ſagte der Gutsherr mit ſehr ge- miſchten Gefühlen: der Anblick der alten Frau wirkte gewaltig auf ihn. „Gebt den Schlüſſel zu jenem Koffer.“ — Margreth antwortete nicht. — „Gebt den Schlüſſel!“ wiederholte der Gutsherr, und merkte jetzt erſt, daß der Schlüſſel ſteckte. Der Inhalt des Koffers kam zum Vorſchein; des Ent- flohenen gute Sonntagskleider und ſeiner Mutter ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit ſchwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war tief erſchüttert. Ganz zu unterſt auf dem Boden des Koffers lag die ſilberne Uhr und einige Schrif- ten von ſehr leſerlicher Hand, eine derſelben von einem Manne unterzeichnet, den man in ſtarkem Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte. Herr von S. nahm ſie mit zur Durchſicht, und man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein anderes Lebenszeichen von ſich gegeben hätte, als daß ſie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den Augen zwinkerte. Im Schloſſe angelangt, fand der Gutsherr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/221
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/221>, abgerufen am 23.11.2024.