warm. Man stieg auf den Söller, in den Keller, stieß in's Stroh, schaute hinter jedes Faß, sogar in den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in den Garten, sahen hinter den Zaun und in die Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden.
"Entwischt!" sagte der Gutsherr mit sehr ge- mischten Gefühlen: der Anblick der alten Frau wirkte gewaltig auf ihn. "Gebt den Schlüssel zu jenem Koffer." -- Margreth antwortete nicht. -- "Gebt den Schlüssel!" wiederholte der Gutsherr, und merkte jetzt erst, daß der Schlüssel steckte. Der Inhalt des Koffers kam zum Vorschein; des Ent- flohenen gute Sonntagskleider und seiner Mutter ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit schwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war tief erschüttert. Ganz zu unterst auf dem Boden des Koffers lag die silberne Uhr und einige Schrif- ten von sehr leserlicher Hand, eine derselben von einem Manne unterzeichnet, den man in starkem Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte. Herr von S. nahm sie mit zur Durchsicht, und man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein anderes Lebenszeichen von sich gegeben hätte, als daß sie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den Augen zwinkerte.
Im Schlosse angelangt, fand der Gutsherr
warm. Man ſtieg auf den Söller, in den Keller, ſtieß in’s Stroh, ſchaute hinter jedes Faß, ſogar in den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in den Garten, ſahen hinter den Zaun und in die Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden.
„Entwiſcht!“ ſagte der Gutsherr mit ſehr ge- miſchten Gefühlen: der Anblick der alten Frau wirkte gewaltig auf ihn. „Gebt den Schlüſſel zu jenem Koffer.“ — Margreth antwortete nicht. — „Gebt den Schlüſſel!“ wiederholte der Gutsherr, und merkte jetzt erſt, daß der Schlüſſel ſteckte. Der Inhalt des Koffers kam zum Vorſchein; des Ent- flohenen gute Sonntagskleider und ſeiner Mutter ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit ſchwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war tief erſchüttert. Ganz zu unterſt auf dem Boden des Koffers lag die ſilberne Uhr und einige Schrif- ten von ſehr leſerlicher Hand, eine derſelben von einem Manne unterzeichnet, den man in ſtarkem Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte. Herr von S. nahm ſie mit zur Durchſicht, und man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein anderes Lebenszeichen von ſich gegeben hätte, als daß ſie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den Augen zwinkerte.
Im Schloſſe angelangt, fand der Gutsherr
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warm. Man ſtieg auf den Söller, in den Keller,
ſtieß in’s Stroh, ſchaute hinter jedes Faß, ſogar in
den Backofen; er war nicht da. Einige gingen in
den Garten, ſahen hinter den Zaun und in die
Apfelbäume hinauf; er war nicht zu finden.
„Entwiſcht!“ ſagte der Gutsherr mit ſehr ge-
miſchten Gefühlen: der Anblick der alten Frau
wirkte gewaltig auf ihn. „Gebt den Schlüſſel zu
jenem Koffer.“ — Margreth antwortete nicht. —
„Gebt den Schlüſſel!“ wiederholte der Gutsherr,
und merkte jetzt erſt, daß der Schlüſſel ſteckte. Der
Inhalt des Koffers kam zum Vorſchein; des Ent-
flohenen gute Sonntagskleider und ſeiner Mutter
ärmlicher Staat; dann zwei Leichenhemden mit
ſchwarzen Bändern, das eine für einen Mann, das
andere für eine Frau gemacht. Herr von S. war
tief erſchüttert. Ganz zu unterſt auf dem Boden
des Koffers lag die ſilberne Uhr und einige Schrif-
ten von ſehr leſerlicher Hand, eine derſelben von
einem Manne unterzeichnet, den man in ſtarkem
Verdacht der Verbindung mit den Holzfrevlern hatte.
Herr von S. nahm ſie mit zur Durchſicht, und
man verließ das Haus, ohne daß Margreth ein
anderes Lebenszeichen von ſich gegeben hätte, als
daß ſie unaufhörlich die Lippen nagte und mit den
Augen zwinkerte.
Im Schloſſe angelangt, fand der Gutsherr
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schü… [mehr]
Die "Letzten Gaben" (1860), postum von Levin Schücking aus dem Nachlass Annette von Droste-Hülshoffs herausgegeben, enthalten mehrere Texte, die zum Teil zu Lebzeiten der Autorin bereits andernorts veröffentlicht worden waren. Beispielsweise erschien Droste-Hülshoffs Novelle "Die Judenbuche" zuerst 1842 im "Morgenblatt für gebildete Leser"; die "Westfälischen Schilderungen" erschienen 1845 in den "Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland". Einzelne Gedichte sind in Journalen und Jahrbüchern erschienen, andere wurden aus dem Nachlass erstmals in der hier digitalisierten Edition von Levin Schücking veröffentlicht (z.B. die Gedichte "Der Nachtwanderer", "Doppeltgänger" und "Halt fest!"). In den meisten Fällen handelt es sich somit nicht um Erstveröffentlichungen der Texte, wohl aber um die erste Publikation in Buchform, weshalb die Nachlassedition für das DTA herangezogen wurde.
Droste-Hülshoff, Annette von: Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter. Hrsg. v. Levin Schücking. Hannover, 1860, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_letzte_1860/221>, abgerufen am 18.05.2024.
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