Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

Getrübt von Dunst, ein glüher Karniol,
Und Schafe weideten am Haidewall.
Dicht über mir sah ich den Hirten sitzen,
Er schlingt den Faden und die Nadeln blitzen,
Wie er bedächtig seinen Socken strickt.
Zu mir hinunter hat er nicht geblickt.
"Ave Maria" hebt er an zu pfeifen,
So sacht und schläfrig, wie die Lüfte streifen.
Er schaut so seelengleich die Heerde an,
Daß man nicht weiß, ob Schaf er oder Mann.
Ein Räuspern dann, und langsam aus der Kehle
Schiebt den Gesang er in das Garngestrehle:

Es stehet ein Fischlein in einem tiefen See,
Danach thu ich wohl schauen, ob es kommt in die Höh;
Wandl' ich über Grunheide bis an den kühlen Rhein,
Alle meine Gedanken bei meinem Feinsliebchen sein.
Gleich wie der Mond ins Wasser schaut hinein,
Und gleich wie die Sonne im Wald gibt güldenen Schein,
Also sich verborgen bei mir die Liebe findt,
Alle meine Gedanken, sie sind bei dir, mein Kind.
Wer da hat gesagt, ich wollte wandern fort,
Der hat sein Feinsliebchen an einem andern Ort;
Trau nicht den falschen Zungen, was sie dir blasen ein,
Alle meine Gedanken, sie sind bei dir allein.
Ich war hinaufgeklommen, stand am Bord,
Dicht vor dem Schäfer, reichte ihm den Knäuel;

Getrübt von Dunſt, ein glüher Karniol,
Und Schafe weideten am Haidewall.
Dicht über mir ſah ich den Hirten ſitzen,
Er ſchlingt den Faden und die Nadeln blitzen,
Wie er bedächtig ſeinen Socken ſtrickt.
Zu mir hinunter hat er nicht geblickt.
„Ave Maria“ hebt er an zu pfeifen,
So ſacht und ſchläfrig, wie die Lüfte ſtreifen.
Er ſchaut ſo ſeelengleich die Heerde an,
Daß man nicht weiß, ob Schaf er oder Mann.
Ein Räuspern dann, und langſam aus der Kehle
Schiebt den Geſang er in das Garngeſtrehle:

Es ſtehet ein Fiſchlein in einem tiefen See,
Danach thu ich wohl ſchauen, ob es kommt in die Höh;
Wandl' ich über Grunheide bis an den kühlen Rhein,
Alle meine Gedanken bei meinem Feinsliebchen ſein.
Gleich wie der Mond ins Waſſer ſchaut hinein,
Und gleich wie die Sonne im Wald gibt güldenen Schein,
Alſo ſich verborgen bei mir die Liebe findt,
Alle meine Gedanken, ſie ſind bei dir, mein Kind.
Wer da hat geſagt, ich wollte wandern fort,
Der hat ſein Feinsliebchen an einem andern Ort;
Trau nicht den falſchen Zungen, was ſie dir blaſen ein,
Alle meine Gedanken, ſie ſind bei dir allein.
Ich war hinaufgeklommen, ſtand am Bord,
Dicht vor dem Schäfer, reichte ihm den Knäuel;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <lg n="5">
              <pb facs="#f0076" n="62"/>
              <l>Getrübt von Dun&#x017F;t, ein glüher Karniol,</l><lb/>
              <l>Und Schafe weideten am Haidewall.</l><lb/>
              <l>Dicht über mir &#x017F;ah ich den Hirten &#x017F;itzen,</l><lb/>
              <l>Er &#x017F;chlingt den Faden und die Nadeln blitzen,</l><lb/>
              <l>Wie er bedächtig &#x017F;einen Socken &#x017F;trickt.</l><lb/>
              <l>Zu mir hinunter hat er nicht geblickt.</l><lb/>
              <l>&#x201E;Ave Maria&#x201C; hebt er an zu pfeifen,</l><lb/>
              <l>So &#x017F;acht und &#x017F;chläfrig, wie die Lüfte &#x017F;treifen.</l><lb/>
              <l>Er &#x017F;chaut &#x017F;o &#x017F;eelengleich die Heerde an,</l><lb/>
              <l>Daß man nicht weiß, ob Schaf er oder Mann.</l><lb/>
              <l>Ein Räuspern dann, und lang&#x017F;am aus der Kehle</l><lb/>
              <l>Schiebt den Ge&#x017F;ang er in das Garnge&#x017F;trehle:</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="6">
              <l>Es &#x017F;tehet ein Fi&#x017F;chlein in einem tiefen See,</l><lb/>
              <l>Danach thu ich wohl &#x017F;chauen, ob es kommt in die Höh;</l><lb/>
              <l>Wandl' ich über Grunheide bis an den kühlen Rhein,</l><lb/>
              <l>Alle meine Gedanken bei meinem Feinsliebchen &#x017F;ein.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="7">
              <l>Gleich wie der Mond ins Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;chaut hinein,</l><lb/>
              <l>Und gleich wie die Sonne im Wald gibt güldenen Schein,</l><lb/>
              <l>Al&#x017F;o &#x017F;ich verborgen bei mir die Liebe findt,</l><lb/>
              <l>Alle meine Gedanken, &#x017F;ie &#x017F;ind bei dir, mein Kind.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="8">
              <l>Wer da hat ge&#x017F;agt, ich wollte wandern fort,</l><lb/>
              <l>Der hat &#x017F;ein Feinsliebchen an einem andern Ort;</l><lb/>
              <l>Trau nicht den fal&#x017F;chen Zungen, was &#x017F;ie dir bla&#x017F;en ein,</l><lb/>
              <l>Alle meine Gedanken, &#x017F;ie &#x017F;ind bei dir allein.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="9">
              <l>Ich war hinaufgeklommen, &#x017F;tand am Bord,</l><lb/>
              <l>Dicht vor dem Schäfer, reichte ihm den Knäuel;</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0076] Getrübt von Dunſt, ein glüher Karniol, Und Schafe weideten am Haidewall. Dicht über mir ſah ich den Hirten ſitzen, Er ſchlingt den Faden und die Nadeln blitzen, Wie er bedächtig ſeinen Socken ſtrickt. Zu mir hinunter hat er nicht geblickt. „Ave Maria“ hebt er an zu pfeifen, So ſacht und ſchläfrig, wie die Lüfte ſtreifen. Er ſchaut ſo ſeelengleich die Heerde an, Daß man nicht weiß, ob Schaf er oder Mann. Ein Räuspern dann, und langſam aus der Kehle Schiebt den Geſang er in das Garngeſtrehle: Es ſtehet ein Fiſchlein in einem tiefen See, Danach thu ich wohl ſchauen, ob es kommt in die Höh; Wandl' ich über Grunheide bis an den kühlen Rhein, Alle meine Gedanken bei meinem Feinsliebchen ſein. Gleich wie der Mond ins Waſſer ſchaut hinein, Und gleich wie die Sonne im Wald gibt güldenen Schein, Alſo ſich verborgen bei mir die Liebe findt, Alle meine Gedanken, ſie ſind bei dir, mein Kind. Wer da hat geſagt, ich wollte wandern fort, Der hat ſein Feinsliebchen an einem andern Ort; Trau nicht den falſchen Zungen, was ſie dir blaſen ein, Alle meine Gedanken, ſie ſind bei dir allein. Ich war hinaufgeklommen, ſtand am Bord, Dicht vor dem Schäfer, reichte ihm den Knäuel;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/76
Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/76>, abgerufen am 23.11.2024.