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Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.

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Am zwölften Mai, bei einsam tiefer Nacht,
Nach einem Tag, ich hatt' ihn froh verbracht
Auf Waldeshöh'n, die wimmelnd von Gesindel
Zum Aether strecken ihrer Fichten Spindel,
An Böhmens Gränze eine starre Wacht:
Dort nahm, der Wissenschaft und Armuth Sohn,
Ein kleines Haus mich auf seit Wochen schon,
Wo Kräuter suchend zwischen Fels und Gründen
Die Einsamkeit ich traulich konnte finden.
Am zwölften Mai, wo das Geschick mich traf --
Auf meinen Wimpern lag der Jugend Schlaf,
Doch ruhig nicht, mein Traum war wie ein Fieber --
Auf Felsen stand ich, Adler kreisten drüber;
Mir näher, näher aus dem tiefen Grau,
Der Flügel Schlag ich hört' ihn ganz genau,
Und hört' es immer, als der Traum zerrann.
Vernahm ich's wirklich? Und was war es dann?
Den Athem haltend lausch' ich vorgebeugt,
Und wahrlich -- zweimal -- dreimal -- nah der Wand
Pocht es vernehmlich an des Fensters Rand.
Dann Schatten seh' ich vor der Scheibe schwanken,
Ein langer Arm, ein dunkler Finger steigt;
Ich war noch jung, wie Pulver die Gedanken,
Wenn aufgeregt, erkannten keine Schranken.
Man weckt den Arzt um Mitternacht so leicht:
Gewöhnlich fänd' ich's jetzt, dort wunderbar;
Doch Jugend schäumt entgegen der Gefahr
Und ohne Sprudel ist kein Trank ihr klar.
So war's nur Neugier und verwegne Glut,
Was durch die Adern trieb das üpp'ge Blut,
Am zwölften Mai, bei einſam tiefer Nacht,
Nach einem Tag, ich hatt' ihn froh verbracht
Auf Waldeshöh'n, die wimmelnd von Geſindel
Zum Aether ſtrecken ihrer Fichten Spindel,
An Böhmens Gränze eine ſtarre Wacht:
Dort nahm, der Wiſſenſchaft und Armuth Sohn,
Ein kleines Haus mich auf ſeit Wochen ſchon,
Wo Kräuter ſuchend zwiſchen Fels und Gründen
Die Einſamkeit ich traulich konnte finden.
Am zwölften Mai, wo das Geſchick mich traf —
Auf meinen Wimpern lag der Jugend Schlaf,
Doch ruhig nicht, mein Traum war wie ein Fieber —
Auf Felſen ſtand ich, Adler kreisten drüber;
Mir näher, näher aus dem tiefen Grau,
Der Flügel Schlag ich hört' ihn ganz genau,
Und hört' es immer, als der Traum zerrann.
Vernahm ich's wirklich? Und was war es dann?
Den Athem haltend lauſch' ich vorgebeugt,
Und wahrlich — zweimal — dreimal — nah der Wand
Pocht es vernehmlich an des Fenſters Rand.
Dann Schatten ſeh' ich vor der Scheibe ſchwanken,
Ein langer Arm, ein dunkler Finger ſteigt;
Ich war noch jung, wie Pulver die Gedanken,
Wenn aufgeregt, erkannten keine Schranken.
Man weckt den Arzt um Mitternacht ſo leicht:
Gewöhnlich fänd' ich's jetzt, dort wunderbar;
Doch Jugend ſchäumt entgegen der Gefahr
Und ohne Sprudel iſt kein Trank ihr klar.
So war's nur Neugier und verwegne Glut,
Was durch die Adern trieb das üpp'ge Blut,
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[461/0475] Am zwölften Mai, bei einſam tiefer Nacht, Nach einem Tag, ich hatt' ihn froh verbracht Auf Waldeshöh'n, die wimmelnd von Geſindel Zum Aether ſtrecken ihrer Fichten Spindel, An Böhmens Gränze eine ſtarre Wacht: Dort nahm, der Wiſſenſchaft und Armuth Sohn, Ein kleines Haus mich auf ſeit Wochen ſchon, Wo Kräuter ſuchend zwiſchen Fels und Gründen Die Einſamkeit ich traulich konnte finden. Am zwölften Mai, wo das Geſchick mich traf — Auf meinen Wimpern lag der Jugend Schlaf, Doch ruhig nicht, mein Traum war wie ein Fieber — Auf Felſen ſtand ich, Adler kreisten drüber; Mir näher, näher aus dem tiefen Grau, Der Flügel Schlag ich hört' ihn ganz genau, Und hört' es immer, als der Traum zerrann. Vernahm ich's wirklich? Und was war es dann? Den Athem haltend lauſch' ich vorgebeugt, Und wahrlich — zweimal — dreimal — nah der Wand Pocht es vernehmlich an des Fenſters Rand. Dann Schatten ſeh' ich vor der Scheibe ſchwanken, Ein langer Arm, ein dunkler Finger ſteigt; Ich war noch jung, wie Pulver die Gedanken, Wenn aufgeregt, erkannten keine Schranken. Man weckt den Arzt um Mitternacht ſo leicht: Gewöhnlich fänd' ich's jetzt, dort wunderbar; Doch Jugend ſchäumt entgegen der Gefahr Und ohne Sprudel iſt kein Trank ihr klar. So war's nur Neugier und verwegne Glut, Was durch die Adern trieb das üpp'ge Blut,

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Zitationshilfe: Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844/475>, abgerufen am 27.04.2024.