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Dohm, Hedwig: Der Jesuitismus im Hausstande. Berlin, 1873.

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weigerte man der Frau jeglichen Ausdruck ihrer Gefühle.
Jm keuschen Dämmer der Phrase, wohl verhüllt, mag
sie in den Gefilden, wo anarchisch tausend kleine Ge-
fühle durcheinander taumeln, sich ergehen.

Eine wohl verhüllte Wahrheit ist aber der Lüge näher
als die Wahrheit. Die Tracht der letzteren ist einfach
und durchsichtig, gelegentlich erscheint sie auch wohl nackt.

Was für eine nichtswürdige Verkehrung aller Be-
griffe! Nicht wer im Dienst der Wahrheit schreibt und
spricht, was er denkt, sondern wer schreibt, was er nicht
denkt, prostituirt sein Gewissen, und er thut es um so
mehr, wenn er aus Eigennutz oder Selbstsucht seine
wahre Meinung verbirgt. Jede geistige Prostitution setzt
feile Gesinnung voraus.

Wie aber, wenn eine Frau ihre wahren Gedanken
ausspräche, ohne der Wahrheit zu dienen, sondern maß-
los irrte?

Was ist Wahrheit? Was ist Jrrthum? Wessen
Geist wäre so gewaltig, so allumfassend, um Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft zu durchdringen; wessen
Geist hätte solche Urtiefe und Himmelshöhe, um zu
sprechen: dieser Keim wird emporblühen und wachsen und
edle Früchte tragen, jener aber giftiges Unkraut erzeugen.

Kein Mensch kann mehr thun, als nach seinem
besten Gewissen denken und handeln, und wer mit leben-

weigerte man der Frau jeglichen Ausdruck ihrer Gefühle.
Jm keuschen Dämmer der Phrase, wohl verhüllt, mag
sie in den Gefilden, wo anarchisch tausend kleine Ge-
fühle durcheinander taumeln, sich ergehen.

Eine wohl verhüllte Wahrheit ist aber der Lüge näher
als die Wahrheit. Die Tracht der letzteren ist einfach
und durchsichtig, gelegentlich erscheint sie auch wohl nackt.

Was für eine nichtswürdige Verkehrung aller Be-
griffe! Nicht wer im Dienst der Wahrheit schreibt und
spricht, was er denkt, sondern wer schreibt, was er nicht
denkt, prostituirt sein Gewissen, und er thut es um so
mehr, wenn er aus Eigennutz oder Selbstsucht seine
wahre Meinung verbirgt. Jede geistige Prostitution setzt
feile Gesinnung voraus.

Wie aber, wenn eine Frau ihre wahren Gedanken
ausspräche, ohne der Wahrheit zu dienen, sondern maß-
los irrte?

Was ist Wahrheit? Was ist Jrrthum? Wessen
Geist wäre so gewaltig, so allumfassend, um Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft zu durchdringen; wessen
Geist hätte solche Urtiefe und Himmelshöhe, um zu
sprechen: dieser Keim wird emporblühen und wachsen und
edle Früchte tragen, jener aber giftiges Unkraut erzeugen.

Kein Mensch kann mehr thun, als nach seinem
besten Gewissen denken und handeln, und wer mit leben-

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[6/0014] weigerte man der Frau jeglichen Ausdruck ihrer Gefühle. Jm keuschen Dämmer der Phrase, wohl verhüllt, mag sie in den Gefilden, wo anarchisch tausend kleine Ge- fühle durcheinander taumeln, sich ergehen. Eine wohl verhüllte Wahrheit ist aber der Lüge näher als die Wahrheit. Die Tracht der letzteren ist einfach und durchsichtig, gelegentlich erscheint sie auch wohl nackt. Was für eine nichtswürdige Verkehrung aller Be- griffe! Nicht wer im Dienst der Wahrheit schreibt und spricht, was er denkt, sondern wer schreibt, was er nicht denkt, prostituirt sein Gewissen, und er thut es um so mehr, wenn er aus Eigennutz oder Selbstsucht seine wahre Meinung verbirgt. Jede geistige Prostitution setzt feile Gesinnung voraus. Wie aber, wenn eine Frau ihre wahren Gedanken ausspräche, ohne der Wahrheit zu dienen, sondern maß- los irrte? Was ist Wahrheit? Was ist Jrrthum? Wessen Geist wäre so gewaltig, so allumfassend, um Vergangen- heit, Gegenwart und Zukunft zu durchdringen; wessen Geist hätte solche Urtiefe und Himmelshöhe, um zu sprechen: dieser Keim wird emporblühen und wachsen und edle Früchte tragen, jener aber giftiges Unkraut erzeugen. Kein Mensch kann mehr thun, als nach seinem besten Gewissen denken und handeln, und wer mit leben-

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Zitationshilfe: Dohm, Hedwig: Der Jesuitismus im Hausstande. Berlin, 1873, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dohm_jesuitismus_1873/14>, abgerufen am 18.04.2024.