Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_396.001 Ausschaltung und Steigerung bewirken überall in der pdi_396.021 pdi_396.001 Ausschaltung und Steigerung bewirken überall in der pdi_396.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0098" n="396"/><lb n="pdi_396.001"/> gewahrt man an den englischen Dichtern, ja an Geschichtsschreibern <lb n="pdi_396.002"/> wie Macaulay und Carlyle, wie ihnen das Gefühl <lb n="pdi_396.003"/> gleichsam in das Auge tritt: schon ein einfacher Brief von <lb n="pdi_396.004"/> Dickens oder Carlyle oder Kingsley enthält diese nervöse <lb n="pdi_396.005"/> Steigerung der Wirklichkeit, wie in einem vergrösserenden Spiegel; <lb n="pdi_396.006"/> die Felsen werden schroffer, die Wiesen saftiger, wenn ihr Auge <lb n="pdi_396.007"/> darüber hingeht. Und diese Gefühlsgewalt in den Bildern entlädt <lb n="pdi_396.008"/> sich dann in jenem eigenthümlich englischen Humor, der ebenfalls <lb n="pdi_396.009"/> durch Steigerungen wirkt und bald das Feine fast verflüchtigt <lb n="pdi_396.010"/> zu Schatten, bald das Starke launenhaft und bizarr dem <lb n="pdi_396.011"/> Aeussersten von Kraft oder Wildheit annähert. Bei Shakespeare <lb n="pdi_396.012"/> und Dickens steigert sich dies zu einer Art von künstlichem <lb n="pdi_396.013"/> Lichte: die Bilder stehen unter elektrischer Beleuchtung und Vergrösserungsgläser <lb n="pdi_396.014"/> wirken. Die Verklärung in den Erinnerungsbildern <lb n="pdi_396.015"/> und die Steigerung in den Zukunftsvorstellungen ist <lb n="pdi_396.016"/> dadurch bedingt, dass Vorstellungsinhalte sich wie im freien <lb n="pdi_396.017"/> Raum ausbreiten und umbilden. So bewirkt eine innere Verwandtschaft, <lb n="pdi_396.018"/> dass das Erinnerungsbild und der Zukunftstraum <lb n="pdi_396.019"/> dem Dichter seine Vorstellungen vorbereiten.</p> <lb n="pdi_396.020"/> <p> <hi rendition="#g">Ausschaltung</hi> und <hi rendition="#g">Steigerung</hi> bewirken überall in der <lb n="pdi_396.021"/> Kunst die Idealisirung der Bilder. Und zwar geschieht das schon bei <lb n="pdi_396.022"/> den absichtslosen Vorgängen der Erinnerung in einer erregbaren <lb n="pdi_396.023"/> Seele. Da wird das Bild einer Landschaft oder einer Person <lb n="pdi_396.024"/> nicht in einem todten Gedächtnissvorgang zurückgerufen, sondern <lb n="pdi_396.025"/> von unserer Gefühlslage aus baut es sich von Neuem auf. <lb n="pdi_396.026"/> Nicht alle Bestandtheile der früheren Wahrnehmung gehen in <lb n="pdi_396.027"/> das neue Gebilde ein, sondern nur was in der gegenwärtigen <lb n="pdi_396.028"/> Bewusstseinslage interessant ist. Und nicht genau in derselben <lb n="pdi_396.029"/> Stärke und Ausdehnung, welche dem Wahrnehmungsbilde eigneten, <lb n="pdi_396.030"/> treten nun die Elemente auf; sie werden vielmehr auch in dieser <lb n="pdi_396.031"/> Rücksicht einigermassen von ihrem Verhältniss zu der gegenwärtigen <lb n="pdi_396.032"/> Lage bestimmt. Indem nun in dem Dichter die Absicht <lb n="pdi_396.033"/> einer getreuen Nachbildung, welche die Erinnerungsbilder <lb n="pdi_396.034"/> regulirt, wegfällt, dagegen der Wille hinzutritt, diese Bilder für <lb n="pdi_396.035"/> das Gefühl befriedigend zu gestalten, erzeugen solche Ausschaltungen, <lb n="pdi_396.036"/> Steigerungen, Minderungen eine fortschreitende </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [396/0098]
pdi_396.001
gewahrt man an den englischen Dichtern, ja an Geschichtsschreibern pdi_396.002
wie Macaulay und Carlyle, wie ihnen das Gefühl pdi_396.003
gleichsam in das Auge tritt: schon ein einfacher Brief von pdi_396.004
Dickens oder Carlyle oder Kingsley enthält diese nervöse pdi_396.005
Steigerung der Wirklichkeit, wie in einem vergrösserenden Spiegel; pdi_396.006
die Felsen werden schroffer, die Wiesen saftiger, wenn ihr Auge pdi_396.007
darüber hingeht. Und diese Gefühlsgewalt in den Bildern entlädt pdi_396.008
sich dann in jenem eigenthümlich englischen Humor, der ebenfalls pdi_396.009
durch Steigerungen wirkt und bald das Feine fast verflüchtigt pdi_396.010
zu Schatten, bald das Starke launenhaft und bizarr dem pdi_396.011
Aeussersten von Kraft oder Wildheit annähert. Bei Shakespeare pdi_396.012
und Dickens steigert sich dies zu einer Art von künstlichem pdi_396.013
Lichte: die Bilder stehen unter elektrischer Beleuchtung und Vergrösserungsgläser pdi_396.014
wirken. Die Verklärung in den Erinnerungsbildern pdi_396.015
und die Steigerung in den Zukunftsvorstellungen ist pdi_396.016
dadurch bedingt, dass Vorstellungsinhalte sich wie im freien pdi_396.017
Raum ausbreiten und umbilden. So bewirkt eine innere Verwandtschaft, pdi_396.018
dass das Erinnerungsbild und der Zukunftstraum pdi_396.019
dem Dichter seine Vorstellungen vorbereiten.
pdi_396.020
Ausschaltung und Steigerung bewirken überall in der pdi_396.021
Kunst die Idealisirung der Bilder. Und zwar geschieht das schon bei pdi_396.022
den absichtslosen Vorgängen der Erinnerung in einer erregbaren pdi_396.023
Seele. Da wird das Bild einer Landschaft oder einer Person pdi_396.024
nicht in einem todten Gedächtnissvorgang zurückgerufen, sondern pdi_396.025
von unserer Gefühlslage aus baut es sich von Neuem auf. pdi_396.026
Nicht alle Bestandtheile der früheren Wahrnehmung gehen in pdi_396.027
das neue Gebilde ein, sondern nur was in der gegenwärtigen pdi_396.028
Bewusstseinslage interessant ist. Und nicht genau in derselben pdi_396.029
Stärke und Ausdehnung, welche dem Wahrnehmungsbilde eigneten, pdi_396.030
treten nun die Elemente auf; sie werden vielmehr auch in dieser pdi_396.031
Rücksicht einigermassen von ihrem Verhältniss zu der gegenwärtigen pdi_396.032
Lage bestimmt. Indem nun in dem Dichter die Absicht pdi_396.033
einer getreuen Nachbildung, welche die Erinnerungsbilder pdi_396.034
regulirt, wegfällt, dagegen der Wille hinzutritt, diese Bilder für pdi_396.035
das Gefühl befriedigend zu gestalten, erzeugen solche Ausschaltungen, pdi_396.036
Steigerungen, Minderungen eine fortschreitende
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |