Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_386.001 Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände pdi_386.033 pdi_386.001 Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände pdi_386.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0088" n="386"/><lb n="pdi_386.001"/> Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen <lb n="pdi_386.002"/> die folgenden Züge eine Verwandtschaft mit Zuständen der Seele, <lb n="pdi_386.003"/> die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder <lb n="pdi_386.004"/> erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen <lb n="pdi_386.005"/> in dem Gesichtsfelde oder dem Aussenraum des Gehörs; so <lb n="pdi_386.006"/> nähert sich das Bild im Dichter der Hallucination. Die Bilder <lb n="pdi_386.007"/> erhalten dann in einem Vorgang von Metamorphose eine von <lb n="pdi_386.008"/> der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt, <lb n="pdi_386.009"/> sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich <lb n="pdi_386.010"/> die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle um; sie nehmen die <lb n="pdi_386.011"/> Gestalt der Affecte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde <lb n="pdi_386.012"/> die unsicheren Linien der Felsen und Bäume unter dem Einfluss <lb n="pdi_386.013"/> des Affectes sich verändern. Das schildert Goethe. „Und die <lb n="pdi_386.014"/> Kuppen, die sich bücken, und die langen Felsennasen, wie sie <lb n="pdi_386.015"/> schnarchen, wie sie blasen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen, <lb n="pdi_386.016"/> winden sich aus Fels und Sande, strecken wunderliche <lb n="pdi_386.017"/> Bande, uns zu schrecken, uns zu fangen; aus belebten derben <lb n="pdi_386.018"/> Masern strecken sie Polypenfasern nach dem Wandrer.“ Ja das <lb n="pdi_386.019"/> Kennzeichen des poetischen Genies liegt eben darin, dass es <lb n="pdi_386.020"/> nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben im Stande <lb n="pdi_386.021"/> ist, sondern mit einer Art von constructiver Geistesmacht eine <lb n="pdi_386.022"/> Gestalt hervorbringen kann, die in keiner Erfahrung ihm gegeben <lb n="pdi_386.023"/> sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen <lb n="pdi_386.024"/> des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam <lb n="pdi_386.025"/> werden. Angenehme Wirkungen werden durch die sinnigen Copisten <lb n="pdi_386.026"/> des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht: in der <lb n="pdi_386.027"/> Menschheit aber leben nur Gestalten, Situationen oder Handlungen, <lb n="pdi_386.028"/> welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen <lb n="pdi_386.029"/> ganz überschreiten. Endlich kann im Dichter eine Art von <lb n="pdi_386.030"/> Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person <lb n="pdi_386.031"/> stattfinden.</p> <lb n="pdi_386.032"/> <p> Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände <lb n="pdi_386.033"/> ein merkwürdiges <hi rendition="#g">Problem.</hi> Die Natur selbst macht uns <lb n="pdi_386.034"/> in diesen Zuständen Experimente vor, welche unter sehr verschiedenen <lb n="pdi_386.035"/> sonstigen Umständen dieselbe Stärke, Sinnfälligkeit <lb n="pdi_386.036"/> und freie Ausbildung der Einbildungsvorstellungen über die </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [386/0088]
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Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen pdi_386.002
die folgenden Züge eine Verwandtschaft mit Zuständen der Seele, pdi_386.003
die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder pdi_386.004
erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen pdi_386.005
in dem Gesichtsfelde oder dem Aussenraum des Gehörs; so pdi_386.006
nähert sich das Bild im Dichter der Hallucination. Die Bilder pdi_386.007
erhalten dann in einem Vorgang von Metamorphose eine von pdi_386.008
der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt, pdi_386.009
sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich pdi_386.010
die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle um; sie nehmen die pdi_386.011
Gestalt der Affecte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde pdi_386.012
die unsicheren Linien der Felsen und Bäume unter dem Einfluss pdi_386.013
des Affectes sich verändern. Das schildert Goethe. „Und die pdi_386.014
Kuppen, die sich bücken, und die langen Felsennasen, wie sie pdi_386.015
schnarchen, wie sie blasen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen, pdi_386.016
winden sich aus Fels und Sande, strecken wunderliche pdi_386.017
Bande, uns zu schrecken, uns zu fangen; aus belebten derben pdi_386.018
Masern strecken sie Polypenfasern nach dem Wandrer.“ Ja das pdi_386.019
Kennzeichen des poetischen Genies liegt eben darin, dass es pdi_386.020
nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben im Stande pdi_386.021
ist, sondern mit einer Art von constructiver Geistesmacht eine pdi_386.022
Gestalt hervorbringen kann, die in keiner Erfahrung ihm gegeben pdi_386.023
sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen pdi_386.024
des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam pdi_386.025
werden. Angenehme Wirkungen werden durch die sinnigen Copisten pdi_386.026
des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht: in der pdi_386.027
Menschheit aber leben nur Gestalten, Situationen oder Handlungen, pdi_386.028
welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen pdi_386.029
ganz überschreiten. Endlich kann im Dichter eine Art von pdi_386.030
Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person pdi_386.031
stattfinden.
pdi_386.032
Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände pdi_386.033
ein merkwürdiges Problem. Die Natur selbst macht uns pdi_386.034
in diesen Zuständen Experimente vor, welche unter sehr verschiedenen pdi_386.035
sonstigen Umständen dieselbe Stärke, Sinnfälligkeit pdi_386.036
und freie Ausbildung der Einbildungsvorstellungen über die
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