pdi_386.001 Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen pdi_386.002 die folgenden Züge eine Verwandtschaft mit Zuständen der Seele, pdi_386.003 die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder pdi_386.004 erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen pdi_386.005 in dem Gesichtsfelde oder dem Aussenraum des Gehörs; so pdi_386.006 nähert sich das Bild im Dichter der Hallucination. Die Bilder pdi_386.007 erhalten dann in einem Vorgang von Metamorphose eine von pdi_386.008 der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt, pdi_386.009 sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich pdi_386.010 die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle um; sie nehmen die pdi_386.011 Gestalt der Affecte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde pdi_386.012 die unsicheren Linien der Felsen und Bäume unter dem Einfluss pdi_386.013 des Affectes sich verändern. Das schildert Goethe. "Und die pdi_386.014 Kuppen, die sich bücken, und die langen Felsennasen, wie sie pdi_386.015 schnarchen, wie sie blasen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen, pdi_386.016 winden sich aus Fels und Sande, strecken wunderliche pdi_386.017 Bande, uns zu schrecken, uns zu fangen; aus belebten derben pdi_386.018 Masern strecken sie Polypenfasern nach dem Wandrer." Ja das pdi_386.019 Kennzeichen des poetischen Genies liegt eben darin, dass es pdi_386.020 nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben im Stande pdi_386.021 ist, sondern mit einer Art von constructiver Geistesmacht eine pdi_386.022 Gestalt hervorbringen kann, die in keiner Erfahrung ihm gegeben pdi_386.023 sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen pdi_386.024 des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam pdi_386.025 werden. Angenehme Wirkungen werden durch die sinnigen Copisten pdi_386.026 des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht: in der pdi_386.027 Menschheit aber leben nur Gestalten, Situationen oder Handlungen, pdi_386.028 welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen pdi_386.029 ganz überschreiten. Endlich kann im Dichter eine Art von pdi_386.030 Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person pdi_386.031 stattfinden.
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Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände pdi_386.033 ein merkwürdiges Problem. Die Natur selbst macht uns pdi_386.034 in diesen Zuständen Experimente vor, welche unter sehr verschiedenen pdi_386.035 sonstigen Umständen dieselbe Stärke, Sinnfälligkeit pdi_386.036 und freie Ausbildung der Einbildungsvorstellungen über die
pdi_386.001 Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen pdi_386.002 die folgenden Züge eine Verwandtschaft mit Zuständen der Seele, pdi_386.003 die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder pdi_386.004 erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen pdi_386.005 in dem Gesichtsfelde oder dem Aussenraum des Gehörs; so pdi_386.006 nähert sich das Bild im Dichter der Hallucination. Die Bilder pdi_386.007 erhalten dann in einem Vorgang von Metamorphose eine von pdi_386.008 der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt, pdi_386.009 sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich pdi_386.010 die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle um; sie nehmen die pdi_386.011 Gestalt der Affecte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde pdi_386.012 die unsicheren Linien der Felsen und Bäume unter dem Einfluss pdi_386.013 des Affectes sich verändern. Das schildert Goethe. „Und die pdi_386.014 Kuppen, die sich bücken, und die langen Felsennasen, wie sie pdi_386.015 schnarchen, wie sie blasen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen, pdi_386.016 winden sich aus Fels und Sande, strecken wunderliche pdi_386.017 Bande, uns zu schrecken, uns zu fangen; aus belebten derben pdi_386.018 Masern strecken sie Polypenfasern nach dem Wandrer.“ Ja das pdi_386.019 Kennzeichen des poetischen Genies liegt eben darin, dass es pdi_386.020 nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben im Stande pdi_386.021 ist, sondern mit einer Art von constructiver Geistesmacht eine pdi_386.022 Gestalt hervorbringen kann, die in keiner Erfahrung ihm gegeben pdi_386.023 sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen pdi_386.024 des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam pdi_386.025 werden. Angenehme Wirkungen werden durch die sinnigen Copisten pdi_386.026 des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht: in der pdi_386.027 Menschheit aber leben nur Gestalten, Situationen oder Handlungen, pdi_386.028 welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen pdi_386.029 ganz überschreiten. Endlich kann im Dichter eine Art von pdi_386.030 Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person pdi_386.031 stattfinden.
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Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände pdi_386.033 ein merkwürdiges Problem. Die Natur selbst macht uns pdi_386.034 in diesen Zuständen Experimente vor, welche unter sehr verschiedenen pdi_386.035 sonstigen Umständen dieselbe Stärke, Sinnfälligkeit pdi_386.036 und freie Ausbildung der Einbildungsvorstellungen über die
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Aber auch in den gesundesten Leistungen eines Dichters zeigen pdi_386.002
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die von der Norm des wachen Lebens abweichen. Vorstellungsbilder pdi_386.004
erhalten den Charakter von Wirklichkeit und erscheinen pdi_386.005
in dem Gesichtsfelde oder dem Aussenraum des Gehörs; so pdi_386.006
nähert sich das Bild im Dichter der Hallucination. Die Bilder pdi_386.007
erhalten dann in einem Vorgang von Metamorphose eine von pdi_386.008
der Wirklichkeit abweichende Gestalt, und auch so umgeformt, pdi_386.009
sind sie von einer Illusion begleitet. Und zwar wandeln sich pdi_386.010
die Bilder unter dem Einfluss der Gefühle um; sie nehmen die pdi_386.011
Gestalt der Affecte an, wie dem Wanderer im nächtlichen Walde pdi_386.012
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des Affectes sich verändern. Das schildert Goethe. „Und die pdi_386.014
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schnarchen, wie sie blasen. Und die Wurzeln, wie die Schlangen, pdi_386.016
winden sich aus Fels und Sande, strecken wunderliche pdi_386.017
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Masern strecken sie Polypenfasern nach dem Wandrer.“ Ja das pdi_386.019
Kennzeichen des poetischen Genies liegt eben darin, dass es pdi_386.020
nicht nur die Erfahrung überzeugend abzuschreiben im Stande pdi_386.021
ist, sondern mit einer Art von constructiver Geistesmacht eine pdi_386.022
Gestalt hervorbringen kann, die in keiner Erfahrung ihm gegeben pdi_386.023
sein konnte und durch welche dann die Erfahrungen pdi_386.024
des täglichen Lebens begreiflich und dem Herzen bedeutsam pdi_386.025
werden. Angenehme Wirkungen werden durch die sinnigen Copisten pdi_386.026
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welche den Horizont der gewöhnlichen Erfahrungen pdi_386.029
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Spaltung des Selbst, eine Umwandlung in eine andere Person pdi_386.031
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Und so enthält die Verwandtschaft der angegebenen Zustände pdi_386.033
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Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/88>, abgerufen am 17.02.2025.
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