Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_371.001 Die Poesie hat ihren elementaren Stoff in diesem Gefühlskreis. pdi_371.013 1) pdi_371.032
Fechners Princip der Wahrheit I 80 ff. ist mit dem der Widerspruchslosigkeit pdi_371.033 verbunden und bezeichnet: wir sind nur von Kunstwerken befriedigt, pdi_371.034 die der Forderung an äussere Wahrheit soweit genügen, als wir pdi_371.035 Anlass finden, eine Uebereinstimmung der Kunstwerke mit äusseren Gegenständen pdi_371.036 nach Idee oder Zweck derselben vorauszusetzen. pdi_371.001 Die Poesie hat ihren elementaren Stoff in diesem Gefühlskreis. pdi_371.013 1) pdi_371.032
Fechners Princip der Wahrheit I 80 ff. ist mit dem der Widerspruchslosigkeit pdi_371.033 verbunden und bezeichnet: wir sind nur von Kunstwerken befriedigt, pdi_371.034 die der Forderung an äussere Wahrheit soweit genügen, als wir pdi_371.035 Anlass finden, eine Uebereinstimmung der Kunstwerke mit äusseren Gegenständen pdi_371.036 nach Idee oder Zweck derselben vorauszusetzen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0073" n="371"/><lb n="pdi_371.001"/> desselben Thatbestandes, und Gefühle der mächtigsten Art <lb n="pdi_371.002"/> knüpfen sich an denselben. Indem Hemmungen und Förderungen <lb n="pdi_371.003"/> hinzutreten und Relationen aufgefasst werden, entstehen die <lb n="pdi_371.004"/> meist sehr zusammengesetzten Einzelgefühle von Eitelkeit, Ehrgefühl, <lb n="pdi_371.005"/> Stolz, Scham, Missgunst etc. Und ebenso mächtig durchherrscht <lb n="pdi_371.006"/> die Gesellschaft die andere Gruppe von Gefühlen, in <lb n="pdi_371.007"/> denen wir Leid und Lust Anderer als unsere empfinden und das <lb n="pdi_371.008"/> Leben Anderer gleichsam in unser eigenes Ich aufnehmen: <lb n="pdi_371.009"/> Sympathie, Mitleid, Liebe. Die ganze feinere Beweglichkeit und <lb n="pdi_371.010"/> Empfindbarkeit der Gesellschaft beruht zunächst auf diesen beiden <lb n="pdi_371.011"/> grossen Zügen des menschlichen Fühlens.</p> <lb n="pdi_371.012"/> <p> Die Poesie hat ihren elementaren Stoff in diesem Gefühlskreis. <lb n="pdi_371.013"/> Je tiefer Motiv und Handlung in diese Wurzeln des <lb n="pdi_371.014"/> Lebens hinabreichen, desto sinnlich gewaltiger bewegen sie. <lb n="pdi_371.015"/> Das Erleben der grossen elementaren Antriebe der menschlichen <lb n="pdi_371.016"/> Existenz, der aus ihnen entspringenden Leidenschaften <lb n="pdi_371.017"/> und der Schicksale derselben in der Welt, nach ihrer kernhaften <lb n="pdi_371.018"/> psychologischen Mächtigkeit, ist die eigentliche Basis alles dichterischen <lb n="pdi_371.019"/> Vermögens. Es macht zunächst der Grundlage nach <lb n="pdi_371.020"/> den grossen Dichter, dass in seiner viel mächtigeren Seele diese <lb n="pdi_371.021"/> Antriebe breiter, massiver wirken als in den Seelen seiner Leser <lb n="pdi_371.022"/> oder Zuhörer; von da entsteht die Erweiterung und Steigerung <lb n="pdi_371.023"/> der ganzen Lebendigkeit, welche die am meisten elementare <lb n="pdi_371.024"/> Wirkung aller Poesie auf diesen Leser oder Hörer ist. Wenn <lb n="pdi_371.025"/> man mit Fechner Principe (Gesetze) formulirt, welche das Schaffen <lb n="pdi_371.026"/> regeln und in dem Schönen verwirklicht sind, dann muss <lb n="pdi_371.027"/> hier ein <hi rendition="#g">Princip</hi> der <hi rendition="#g">Wahrhaftigkeit,</hi> im Sinne einer <lb n="pdi_371.028"/> mächtigen Wirklichkeit der dichterischen Person und der elementaren <lb n="pdi_371.029"/> Antriebe in ihr, aufgestellt werden.<note xml:id="PDI_371_1" place="foot" n="1)"><lb n="pdi_371.032"/> Fechners Princip der Wahrheit I 80 ff. ist mit dem der Widerspruchslosigkeit <lb n="pdi_371.033"/> verbunden und bezeichnet: wir sind nur von Kunstwerken befriedigt, <lb n="pdi_371.034"/> die der Forderung an äussere Wahrheit soweit genügen, als wir <lb n="pdi_371.035"/> Anlass finden, eine Uebereinstimmung der Kunstwerke mit äusseren Gegenständen <lb n="pdi_371.036"/> nach Idee oder Zweck derselben vorauszusetzen.</note> Dasselbe wird in <lb n="pdi_371.030"/> allen Künsten Gültigkeit haben. Denn auch wo gar keine äussere <lb n="pdi_371.031"/> Wahrheit im Sinne von Abbildung eines Wirklichen angestrebt </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [371/0073]
pdi_371.001
desselben Thatbestandes, und Gefühle der mächtigsten Art pdi_371.002
knüpfen sich an denselben. Indem Hemmungen und Förderungen pdi_371.003
hinzutreten und Relationen aufgefasst werden, entstehen die pdi_371.004
meist sehr zusammengesetzten Einzelgefühle von Eitelkeit, Ehrgefühl, pdi_371.005
Stolz, Scham, Missgunst etc. Und ebenso mächtig durchherrscht pdi_371.006
die Gesellschaft die andere Gruppe von Gefühlen, in pdi_371.007
denen wir Leid und Lust Anderer als unsere empfinden und das pdi_371.008
Leben Anderer gleichsam in unser eigenes Ich aufnehmen: pdi_371.009
Sympathie, Mitleid, Liebe. Die ganze feinere Beweglichkeit und pdi_371.010
Empfindbarkeit der Gesellschaft beruht zunächst auf diesen beiden pdi_371.011
grossen Zügen des menschlichen Fühlens.
pdi_371.012
Die Poesie hat ihren elementaren Stoff in diesem Gefühlskreis. pdi_371.013
Je tiefer Motiv und Handlung in diese Wurzeln des pdi_371.014
Lebens hinabreichen, desto sinnlich gewaltiger bewegen sie. pdi_371.015
Das Erleben der grossen elementaren Antriebe der menschlichen pdi_371.016
Existenz, der aus ihnen entspringenden Leidenschaften pdi_371.017
und der Schicksale derselben in der Welt, nach ihrer kernhaften pdi_371.018
psychologischen Mächtigkeit, ist die eigentliche Basis alles dichterischen pdi_371.019
Vermögens. Es macht zunächst der Grundlage nach pdi_371.020
den grossen Dichter, dass in seiner viel mächtigeren Seele diese pdi_371.021
Antriebe breiter, massiver wirken als in den Seelen seiner Leser pdi_371.022
oder Zuhörer; von da entsteht die Erweiterung und Steigerung pdi_371.023
der ganzen Lebendigkeit, welche die am meisten elementare pdi_371.024
Wirkung aller Poesie auf diesen Leser oder Hörer ist. Wenn pdi_371.025
man mit Fechner Principe (Gesetze) formulirt, welche das Schaffen pdi_371.026
regeln und in dem Schönen verwirklicht sind, dann muss pdi_371.027
hier ein Princip der Wahrhaftigkeit, im Sinne einer pdi_371.028
mächtigen Wirklichkeit der dichterischen Person und der elementaren pdi_371.029
Antriebe in ihr, aufgestellt werden. 1) Dasselbe wird in pdi_371.030
allen Künsten Gültigkeit haben. Denn auch wo gar keine äussere pdi_371.031
Wahrheit im Sinne von Abbildung eines Wirklichen angestrebt
1) pdi_371.032
Fechners Princip der Wahrheit I 80 ff. ist mit dem der Widerspruchslosigkeit pdi_371.033
verbunden und bezeichnet: wir sind nur von Kunstwerken befriedigt, pdi_371.034
die der Forderung an äussere Wahrheit soweit genügen, als wir pdi_371.035
Anlass finden, eine Uebereinstimmung der Kunstwerke mit äusseren Gegenständen pdi_371.036
nach Idee oder Zweck derselben vorauszusetzen.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/73 |
Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/73>, abgerufen am 17.02.2025. |