Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_342.001 Der Dichter unterscheidet sich zunächst durch die Intensität pdi_342.029 pdi_342.001 Der Dichter unterscheidet sich zunächst durch die Intensität pdi_342.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0044" n="342"/><lb n="pdi_342.001"/> eines Vorgangs oder ineinandergreifender Vorgänge, welche nur <lb n="pdi_342.002"/> in dieser Klasse stattfinden, vielmehr wirken hier dieselben Vorgänge, <lb n="pdi_342.003"/> welche in jedem Seelenleben auftreten, nur in besonderen <lb n="pdi_342.004"/> Massverhältnissen ihrer Intensität. Die schöpferische Phantasie <lb n="pdi_342.005"/> des Dichters tritt uns als ein das Alltagsleben der Menschen <lb n="pdi_342.006"/> ganz überschreitendes Phänomen gegenüber. Dennoch ist sie <lb n="pdi_342.007"/> nur eine mächtigere Organisation gewisser Menschen, die aus <lb n="pdi_342.008"/> der ungewöhnlichen Intensität und Dauer bestimmter elementarer <lb n="pdi_342.009"/> Vorgänge in denselben entspringt. Dasselbe geistige Leben <lb n="pdi_342.010"/> baut sich aus denselben Vorgängen und nach den gleichen <lb n="pdi_342.011"/> Gesetzen zu weit von einander abliegenden Gestalten und Leistungen <lb n="pdi_342.012"/> vermittelst dieser blossen Unterschiede von Intensität, <lb n="pdi_342.013"/> Dauer und Verkettung auf. So entsteht auch der grosse Dichter, <lb n="pdi_342.014"/> ein Wesen, das von allen anderen Classen der Menschen in viel <lb n="pdi_342.015"/> höherem Grade abweicht, als man in der Regel annimmt. Der <lb n="pdi_342.016"/> biedere dichterische Handwerker zeigt uns freilich nichts von <lb n="pdi_342.017"/> dieser dämonischen Mächtigkeit und unberechenbaren leidenschaftlichen <lb n="pdi_342.018"/> Gewalt, mit welcher ein Rousseau, Alfieri, Byron, <lb n="pdi_342.019"/> Dickens durchs Leben gegangen sind. Die Psychologie hat zunächst <lb n="pdi_342.020"/> mit der Untersuchung der Gleichförmigkeiten so viel <lb n="pdi_342.021"/> zu thun gehabt, dass die Erklärung der geistigen Typen wohl <lb n="pdi_342.022"/> zurückbleiben musste. Und die Literaturgeschichte musste auf <lb n="pdi_342.023"/> die Mitwirkung des psychologischen Aesthetikers warten; erst <lb n="pdi_342.024"/> mit seiner Hilfe, nach der Erforschung der poetischen Phantasie, <lb n="pdi_342.025"/> wird sie gründliche und genaue Bilder der besonderen Art des <lb n="pdi_342.026"/> Lebens und Dichtens von den Poeten, über die wir ausreichende <lb n="pdi_342.027"/> Quellen haben, entwerfen können.</p> <lb n="pdi_342.028"/> <p> Der Dichter unterscheidet sich zunächst durch die Intensität <lb n="pdi_342.029"/> und Genauigkeit der <hi rendition="#g">Wahrnehmungsbilder,</hi> die Mannichfaltigkeit <lb n="pdi_342.030"/> derselben und das Interesse, das sie begleitet. Das ist <lb n="pdi_342.031"/> der erste Bestandtheil des Erlebnisses, und er tritt in dem Dichter <lb n="pdi_342.032"/> mit einer ungewöhnlichen Energie auf. Hiervon liegt der nächste <lb n="pdi_342.033"/> Grund in der sinnlichen Organisation des Dichters, in dem Auge, <lb n="pdi_342.034"/> mit dem er in die Welt blickt, dem feinen Ohr, mit dem er <lb n="pdi_342.035"/> sie vernimmt. Wollen wir den Reichthum genauer Bilder, der <lb n="pdi_342.036"/> im Dichter sich anhäuft, überzählen, so können wir ihr Auftreten </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [342/0044]
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eines Vorgangs oder ineinandergreifender Vorgänge, welche nur pdi_342.002
in dieser Klasse stattfinden, vielmehr wirken hier dieselben Vorgänge, pdi_342.003
welche in jedem Seelenleben auftreten, nur in besonderen pdi_342.004
Massverhältnissen ihrer Intensität. Die schöpferische Phantasie pdi_342.005
des Dichters tritt uns als ein das Alltagsleben der Menschen pdi_342.006
ganz überschreitendes Phänomen gegenüber. Dennoch ist sie pdi_342.007
nur eine mächtigere Organisation gewisser Menschen, die aus pdi_342.008
der ungewöhnlichen Intensität und Dauer bestimmter elementarer pdi_342.009
Vorgänge in denselben entspringt. Dasselbe geistige Leben pdi_342.010
baut sich aus denselben Vorgängen und nach den gleichen pdi_342.011
Gesetzen zu weit von einander abliegenden Gestalten und Leistungen pdi_342.012
vermittelst dieser blossen Unterschiede von Intensität, pdi_342.013
Dauer und Verkettung auf. So entsteht auch der grosse Dichter, pdi_342.014
ein Wesen, das von allen anderen Classen der Menschen in viel pdi_342.015
höherem Grade abweicht, als man in der Regel annimmt. Der pdi_342.016
biedere dichterische Handwerker zeigt uns freilich nichts von pdi_342.017
dieser dämonischen Mächtigkeit und unberechenbaren leidenschaftlichen pdi_342.018
Gewalt, mit welcher ein Rousseau, Alfieri, Byron, pdi_342.019
Dickens durchs Leben gegangen sind. Die Psychologie hat zunächst pdi_342.020
mit der Untersuchung der Gleichförmigkeiten so viel pdi_342.021
zu thun gehabt, dass die Erklärung der geistigen Typen wohl pdi_342.022
zurückbleiben musste. Und die Literaturgeschichte musste auf pdi_342.023
die Mitwirkung des psychologischen Aesthetikers warten; erst pdi_342.024
mit seiner Hilfe, nach der Erforschung der poetischen Phantasie, pdi_342.025
wird sie gründliche und genaue Bilder der besonderen Art des pdi_342.026
Lebens und Dichtens von den Poeten, über die wir ausreichende pdi_342.027
Quellen haben, entwerfen können.
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Der Dichter unterscheidet sich zunächst durch die Intensität pdi_342.029
und Genauigkeit der Wahrnehmungsbilder, die Mannichfaltigkeit pdi_342.030
derselben und das Interesse, das sie begleitet. Das ist pdi_342.031
der erste Bestandtheil des Erlebnisses, und er tritt in dem Dichter pdi_342.032
mit einer ungewöhnlichen Energie auf. Hiervon liegt der nächste pdi_342.033
Grund in der sinnlichen Organisation des Dichters, in dem Auge, pdi_342.034
mit dem er in die Welt blickt, dem feinen Ohr, mit dem er pdi_342.035
sie vernimmt. Wollen wir den Reichthum genauer Bilder, der pdi_342.036
im Dichter sich anhäuft, überzählen, so können wir ihr Auftreten
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