Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_473.001 pdi_473.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0175" n="473"/><lb n="pdi_473.001"/> Aeschylos die Form und Technik der tragischen Trilogie. Als <lb n="pdi_473.002"/> das Verständniss für deren Voraussetzungen nach dem Untergang <lb n="pdi_473.003"/> der alten Geschlechterverfassung und des alten Glaubens <lb n="pdi_473.004"/> allmälig geschwunden war, löste sich auch ihre Form auf. Entfaltete <lb n="pdi_473.005"/> sich die attische Trilogie aus einem einfachen Keim zu <lb n="pdi_473.006"/> massvollen, rhythmischen Verhältnissen, so ist das <hi rendition="#g">spanische</hi> <lb n="pdi_473.007"/> und <hi rendition="#g">englische</hi> Theater umgekehrt von den bunten, rohen und <lb n="pdi_473.008"/> ungeregelten Abenteuern der Volksbühne zur Schöpfung eines einheitlichen <lb n="pdi_473.009"/> dramatischen Typus fortgegangen. Diese Entwicklung <lb n="pdi_473.010"/> vollzog sich bei beiden Völkern durch manche geniale Experimente <lb n="pdi_473.011"/> hindurch, in der Auseinandersetzung mit der von den Griechen <lb n="pdi_473.012"/> stammenden Form und Theorie. Und hier wie dort gelang es <lb n="pdi_473.013"/> einem schöpferischen Kopfe, den Typus einer neuen Form zu <lb n="pdi_473.014"/> finden. Aber so verschieden wie der Lebensgehalt eines spanischen <lb n="pdi_473.015"/> Menschen jener Tage und der eines damaligen Engländers, <lb n="pdi_473.016"/> war die Bühne, welcher Lope und welcher Shakespeare das <lb n="pdi_473.017"/> Gesetz ihrer Form gab. „In der glücklichen Zeit, da das <lb n="pdi_473.018"/> glorreiche Königspaar Ferdinand und Isabella Granada eroberte, <lb n="pdi_473.019"/> da Columbus Amerika entdeckte, da begann die Inquisition <lb n="pdi_473.020"/> und zugleich unsere Comödie, damit Alle angespornt würden, <lb n="pdi_473.021"/> gute und heroische Handlungen zu vollbringen, indem sie <lb n="pdi_473.022"/> Thaten grosser Männer dargestellt sehen.“ In diesem Sinne <lb n="pdi_473.023"/> bezeichnet Lope in seinem Gedicht „Neue Kunst, in jetziger <lb n="pdi_473.024"/> Zeit Comödien zu verfassen“ Angelegenheiten der Ehre und <lb n="pdi_473.025"/> tugendhafte Handlungen als den am meisten geeigneten Stoff <lb n="pdi_473.026"/> des Schauspiels. Der Typus dieses Dramas ist also nicht durch <lb n="pdi_473.027"/> einen tragischen Ausgang charakterisirt, sondern geht von einem <lb n="pdi_473.028"/> Conflict aus durch Spiel und Gegenspiel meist zu einer Krisis, <lb n="pdi_473.029"/> in welcher die Ehre hergestellt oder die tugendhafte Handlung <lb n="pdi_473.030"/> belohnt wird. Nicht selten erscheint da katholisch absolutistisch <lb n="pdi_473.031"/> und äusserlich der Monarch oder sein Vertreter als Theatergott, <lb n="pdi_473.032"/> die übrig bleibenden Schäden der Ehre zu heilen, oder <lb n="pdi_473.033"/> die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Das ganze Genie des Dichters <lb n="pdi_473.034"/> concentrirt sich darauf, die Handlung durch immer neue Theaterstreiche <lb n="pdi_473.035"/> zu verwickeln, die buntesten Contraste des Lebens <lb n="pdi_473.036"/> zu verknüpfen und die Spannung bis zum Ziel zu erhalten. </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [473/0175]
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Aeschylos die Form und Technik der tragischen Trilogie. Als pdi_473.002
das Verständniss für deren Voraussetzungen nach dem Untergang pdi_473.003
der alten Geschlechterverfassung und des alten Glaubens pdi_473.004
allmälig geschwunden war, löste sich auch ihre Form auf. Entfaltete pdi_473.005
sich die attische Trilogie aus einem einfachen Keim zu pdi_473.006
massvollen, rhythmischen Verhältnissen, so ist das spanische pdi_473.007
und englische Theater umgekehrt von den bunten, rohen und pdi_473.008
ungeregelten Abenteuern der Volksbühne zur Schöpfung eines einheitlichen pdi_473.009
dramatischen Typus fortgegangen. Diese Entwicklung pdi_473.010
vollzog sich bei beiden Völkern durch manche geniale Experimente pdi_473.011
hindurch, in der Auseinandersetzung mit der von den Griechen pdi_473.012
stammenden Form und Theorie. Und hier wie dort gelang es pdi_473.013
einem schöpferischen Kopfe, den Typus einer neuen Form zu pdi_473.014
finden. Aber so verschieden wie der Lebensgehalt eines spanischen pdi_473.015
Menschen jener Tage und der eines damaligen Engländers, pdi_473.016
war die Bühne, welcher Lope und welcher Shakespeare das pdi_473.017
Gesetz ihrer Form gab. „In der glücklichen Zeit, da das pdi_473.018
glorreiche Königspaar Ferdinand und Isabella Granada eroberte, pdi_473.019
da Columbus Amerika entdeckte, da begann die Inquisition pdi_473.020
und zugleich unsere Comödie, damit Alle angespornt würden, pdi_473.021
gute und heroische Handlungen zu vollbringen, indem sie pdi_473.022
Thaten grosser Männer dargestellt sehen.“ In diesem Sinne pdi_473.023
bezeichnet Lope in seinem Gedicht „Neue Kunst, in jetziger pdi_473.024
Zeit Comödien zu verfassen“ Angelegenheiten der Ehre und pdi_473.025
tugendhafte Handlungen als den am meisten geeigneten Stoff pdi_473.026
des Schauspiels. Der Typus dieses Dramas ist also nicht durch pdi_473.027
einen tragischen Ausgang charakterisirt, sondern geht von einem pdi_473.028
Conflict aus durch Spiel und Gegenspiel meist zu einer Krisis, pdi_473.029
in welcher die Ehre hergestellt oder die tugendhafte Handlung pdi_473.030
belohnt wird. Nicht selten erscheint da katholisch absolutistisch pdi_473.031
und äusserlich der Monarch oder sein Vertreter als Theatergott, pdi_473.032
die übrig bleibenden Schäden der Ehre zu heilen, oder pdi_473.033
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concentrirt sich darauf, die Handlung durch immer neue Theaterstreiche pdi_473.035
zu verwickeln, die buntesten Contraste des Lebens pdi_473.036
zu verknüpfen und die Spannung bis zum Ziel zu erhalten.
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