Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_461.001 Die Darstellung der typischen Wesenheit eines Charakters pdi_461.019 pdi_461.001 Die Darstellung der typischen Wesenheit eines Charakters pdi_461.019 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0163" n="461"/><lb n="pdi_461.001"/> Typische des Charakters ist hell beleuchtet und alles Andere <lb n="pdi_461.002"/> scheint mälig in der Dämmerung zu verschwinden. So handelt <lb n="pdi_461.003"/> der Dichter wie der Maler. Auch er stellt nur hin, was in den <lb n="pdi_461.004"/> Umkreis des Interesses, der Aufmerksamkeit und der so bedingten <lb n="pdi_461.005"/> betonten Wahrnehmung fällt. Gerade dadurch wetteifert <lb n="pdi_461.006"/> er mit dem Gewahren des Wirklichen selber. Ein Maler, <lb n="pdi_461.007"/> der Alles sehen lassen will, bringt keine Illusion hervor. Solche <lb n="pdi_461.008"/> Wirkung wird noch verstärkt, wenn, wie in dem Leben selber, <lb n="pdi_461.009"/> in dem Kern der Charaktere etwas Undurchdringliches zurückbleibt. <lb n="pdi_461.010"/> Dies ist allemal der Fall, wenn die Phantasie des <lb n="pdi_461.011"/> Dichters zugleich so mächtig und so realistisch ist, dass sie die <lb n="pdi_461.012"/> Ecken des Stoffes nicht abschleift und das Unregelmässige in <lb n="pdi_461.013"/> ihm nicht ausgleicht. Die so entstehende Irrationalität wirkt <lb n="pdi_461.014"/> äusserst lebendig. Die Gesichtszüge treten dann, halbbeleuchtet <lb n="pdi_461.015"/> nur, theilweise, räthselhaft und nicht zueinander ausgeglichen, <lb n="pdi_461.016"/> aus einer geheimnissvollen Dämmerung hervor, wie in einem <lb n="pdi_461.017"/> Gemälde Rembrandts.</p> <lb n="pdi_461.018"/> <p> Die Darstellung der typischen Wesenheit eines Charakters <lb n="pdi_461.019"/> wird immer nur durch eine sehr grosse Lebendigkeit der <lb n="pdi_461.020"/> inneren Vorgänge im Dichter ermöglicht, welche <hi rendition="#g">unter angenommenen <lb n="pdi_461.021"/> einfacheren Bedingungen von der <lb n="pdi_461.022"/> blossen Imagination aus diese Vorgänge ins Spiel zu <lb n="pdi_461.023"/> setzen</hi> gestattet. Alsdann erwirkt ein Vorgang den anderen <lb n="pdi_461.024"/> in einer Folgerichtigkeit, welche dies Traumbild der Natur <lb n="pdi_461.025"/> selber ähnlich macht. So erklären sich die wiederholten <lb n="pdi_461.026"/> merkwürdigen Aeusserungen Goethes, dass er „die Kenntnisse <lb n="pdi_461.027"/> mannigfaltiger menschlicher Zustände durch Anticipation besessen <lb n="pdi_461.028"/> habe.“ „Ueberhaupt hatte ich meine Freude an der <lb n="pdi_461.029"/> Darstellung meiner inneren Welt, ehe ich die äussere kannte. <lb n="pdi_461.030"/> Als ich nachher in der Wirklichkeit fand, dass die Welt so <lb n="pdi_461.031"/> war, wie ich sie mir gedacht hatte, war sie mir verdriesslich, <lb n="pdi_461.032"/> und ich hatte keine Lust mehr, sie darzustellen, ja ich möchte <lb n="pdi_461.033"/> sagen: hätte ich mit der Darstellung der Welt so lange gewartet, <lb n="pdi_461.034"/> bis ich sie kannte, so wäre meine Darstellung <lb n="pdi_461.035"/> Persiflage geworden.“ „Meine Idee von den Frauen ist nicht von <lb n="pdi_461.036"/> den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahirt, sondern sie ist </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [461/0163]
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Typische des Charakters ist hell beleuchtet und alles Andere pdi_461.002
scheint mälig in der Dämmerung zu verschwinden. So handelt pdi_461.003
der Dichter wie der Maler. Auch er stellt nur hin, was in den pdi_461.004
Umkreis des Interesses, der Aufmerksamkeit und der so bedingten pdi_461.005
betonten Wahrnehmung fällt. Gerade dadurch wetteifert pdi_461.006
er mit dem Gewahren des Wirklichen selber. Ein Maler, pdi_461.007
der Alles sehen lassen will, bringt keine Illusion hervor. Solche pdi_461.008
Wirkung wird noch verstärkt, wenn, wie in dem Leben selber, pdi_461.009
in dem Kern der Charaktere etwas Undurchdringliches zurückbleibt. pdi_461.010
Dies ist allemal der Fall, wenn die Phantasie des pdi_461.011
Dichters zugleich so mächtig und so realistisch ist, dass sie die pdi_461.012
Ecken des Stoffes nicht abschleift und das Unregelmässige in pdi_461.013
ihm nicht ausgleicht. Die so entstehende Irrationalität wirkt pdi_461.014
äusserst lebendig. Die Gesichtszüge treten dann, halbbeleuchtet pdi_461.015
nur, theilweise, räthselhaft und nicht zueinander ausgeglichen, pdi_461.016
aus einer geheimnissvollen Dämmerung hervor, wie in einem pdi_461.017
Gemälde Rembrandts.
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Die Darstellung der typischen Wesenheit eines Charakters pdi_461.019
wird immer nur durch eine sehr grosse Lebendigkeit der pdi_461.020
inneren Vorgänge im Dichter ermöglicht, welche unter angenommenen pdi_461.021
einfacheren Bedingungen von der pdi_461.022
blossen Imagination aus diese Vorgänge ins Spiel zu pdi_461.023
setzen gestattet. Alsdann erwirkt ein Vorgang den anderen pdi_461.024
in einer Folgerichtigkeit, welche dies Traumbild der Natur pdi_461.025
selber ähnlich macht. So erklären sich die wiederholten pdi_461.026
merkwürdigen Aeusserungen Goethes, dass er „die Kenntnisse pdi_461.027
mannigfaltiger menschlicher Zustände durch Anticipation besessen pdi_461.028
habe.“ „Ueberhaupt hatte ich meine Freude an der pdi_461.029
Darstellung meiner inneren Welt, ehe ich die äussere kannte. pdi_461.030
Als ich nachher in der Wirklichkeit fand, dass die Welt so pdi_461.031
war, wie ich sie mir gedacht hatte, war sie mir verdriesslich, pdi_461.032
und ich hatte keine Lust mehr, sie darzustellen, ja ich möchte pdi_461.033
sagen: hätte ich mit der Darstellung der Welt so lange gewartet, pdi_461.034
bis ich sie kannte, so wäre meine Darstellung pdi_461.035
Persiflage geworden.“ „Meine Idee von den Frauen ist nicht von pdi_461.036
den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahirt, sondern sie ist
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