Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_438.001 Daher muss der Auslegung dichterischer Werke entgegengetreten pdi_438.018 pdi_438.001 Daher muss der Auslegung dichterischer Werke entgegengetreten pdi_438.018 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0140" n="438"/><lb n="pdi_438.001"/> Schon aus diesem Grunde ist für ihn selber der Meister „eine <lb n="pdi_438.002"/> der incalculabelsten Productionen“; „ja, um sie zu beurtheilen, <lb n="pdi_438.003"/> fehle ihm beinahe selber der Massstab.“ Und den Faust nennt <lb n="pdi_438.004"/> er ausdrücklich etwas ganz „Incommensurables“ und findet alle <lb n="pdi_438.005"/> Versuche vergeblich, ihn dem Verstand näher zu bringen. In <lb n="pdi_438.006"/> welchem Sinne das Erlebte in der Dichtung dennoch zu <hi rendition="#g">allgemeingültiger <lb n="pdi_438.007"/> Bedeutung erhoben</hi> wird, spricht er in <lb n="pdi_438.008"/> Bezug auf Wilhelm Meister aus. „Die Anfänge entsprangen aus <lb n="pdi_438.009"/> einem dunklen Gefühl der grossen Wahrheit, dass der Mensch oft <lb n="pdi_438.010"/> etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt <lb n="pdi_438.011"/> ist. Und doch ist es möglich, dass alle die falschen Schritte <lb n="pdi_438.012"/> zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich <lb n="pdi_438.013"/> im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt, <lb n="pdi_438.014"/> ja zuletzt in den klaren Worten ausspricht: Du kommst mir vor <lb n="pdi_438.015"/> wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen <lb n="pdi_438.016"/> zu suchen, und ein Königreich fand.“</p> <lb n="pdi_438.017"/> <p> Daher muss der Auslegung dichterischer Werke entgegengetreten <lb n="pdi_438.018"/> werden, wie sie noch gegenwärtig unter dem Einfluss <lb n="pdi_438.019"/> der <hi rendition="#g">Aesthetik Hegels</hi> herrscht. Ich wähle ein Beispiel. Der <lb n="pdi_438.020"/> Versuch, die Idee des Hamlet auszusprechen, ist immer wieder <lb n="pdi_438.021"/> gemacht worden. Doch kann nur die ganz incommensurable <lb n="pdi_438.022"/> Thatsächlichkeit, dem Dichter nachstammelnd, beschrieben werden, <lb n="pdi_438.023"/> welche er in seinem Drama zu allgemeingültiger Bedeutung erhoben <lb n="pdi_438.024"/> hat. Da er nämlich ein feines und starkes sittliches Gefühl, <lb n="pdi_438.025"/> im Zusammenhang mit der protestantischen Religiosität <lb n="pdi_438.026"/> seiner Tage, in sich ausgebildet hatte, gerieth dasselbe vielfach <lb n="pdi_438.027"/> in widrige Berührung mit den zweifelhaften moralischen Verhältnissen, <lb n="pdi_438.028"/> in denen er sich emporarbeitete. Hieraus entsprang <lb n="pdi_438.029"/> ihm neben der Freude einer grossen Natur an der heroischen <lb n="pdi_438.030"/> Leidenschaft, an dem Glück und Glanz dieser Welt ein sehr <lb n="pdi_438.031"/> tiefes Gefühl ihrer Gebrechlichkeit und moralischen Schadhaftigkeit. <lb n="pdi_438.032"/> Das englische Drama vor ihm hat durch die stärksten <lb n="pdi_438.033"/> Contraste und die verwegensten Effecte, durch blutige Abenteuer <lb n="pdi_438.034"/> und komische Situationen, durch sinnliche Lebensmacht und <lb n="pdi_438.035"/> tragischen Tod gewirkt. Shakespeares Energie der sittlichen Gefühle <lb n="pdi_438.036"/> brachte in dasselbe den inneren Zusammenhang von Charakter, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [438/0140]
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Schon aus diesem Grunde ist für ihn selber der Meister „eine pdi_438.002
der incalculabelsten Productionen“; „ja, um sie zu beurtheilen, pdi_438.003
fehle ihm beinahe selber der Massstab.“ Und den Faust nennt pdi_438.004
er ausdrücklich etwas ganz „Incommensurables“ und findet alle pdi_438.005
Versuche vergeblich, ihn dem Verstand näher zu bringen. In pdi_438.006
welchem Sinne das Erlebte in der Dichtung dennoch zu allgemeingültiger pdi_438.007
Bedeutung erhoben wird, spricht er in pdi_438.008
Bezug auf Wilhelm Meister aus. „Die Anfänge entsprangen aus pdi_438.009
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etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt pdi_438.011
ist. Und doch ist es möglich, dass alle die falschen Schritte pdi_438.012
zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich pdi_438.013
im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und bestätigt, pdi_438.014
ja zuletzt in den klaren Worten ausspricht: Du kommst mir vor pdi_438.015
wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen pdi_438.016
zu suchen, und ein Königreich fand.“
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Daher muss der Auslegung dichterischer Werke entgegengetreten pdi_438.018
werden, wie sie noch gegenwärtig unter dem Einfluss pdi_438.019
der Aesthetik Hegels herrscht. Ich wähle ein Beispiel. Der pdi_438.020
Versuch, die Idee des Hamlet auszusprechen, ist immer wieder pdi_438.021
gemacht worden. Doch kann nur die ganz incommensurable pdi_438.022
Thatsächlichkeit, dem Dichter nachstammelnd, beschrieben werden, pdi_438.023
welche er in seinem Drama zu allgemeingültiger Bedeutung erhoben pdi_438.024
hat. Da er nämlich ein feines und starkes sittliches Gefühl, pdi_438.025
im Zusammenhang mit der protestantischen Religiosität pdi_438.026
seiner Tage, in sich ausgebildet hatte, gerieth dasselbe vielfach pdi_438.027
in widrige Berührung mit den zweifelhaften moralischen Verhältnissen, pdi_438.028
in denen er sich emporarbeitete. Hieraus entsprang pdi_438.029
ihm neben der Freude einer grossen Natur an der heroischen pdi_438.030
Leidenschaft, an dem Glück und Glanz dieser Welt ein sehr pdi_438.031
tiefes Gefühl ihrer Gebrechlichkeit und moralischen Schadhaftigkeit. pdi_438.032
Das englische Drama vor ihm hat durch die stärksten pdi_438.033
Contraste und die verwegensten Effecte, durch blutige Abenteuer pdi_438.034
und komische Situationen, durch sinnliche Lebensmacht und pdi_438.035
tragischen Tod gewirkt. Shakespeares Energie der sittlichen Gefühle pdi_438.036
brachte in dasselbe den inneren Zusammenhang von Charakter,
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