Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_432.001
einer psychologischen Interpretation dieser Unterschiede pdi_432.002
besteht. Es wäre verfehlt, diese Arten constructiv aus Wesen, pdi_432.003
Ziel und Mitteln der Dichtung abzuleiten, und wenn viele pdi_432.004
Aesthetiker das Drama für eine höhere Einheit von Lyrik und pdi_432.005
Epos erklärt haben, so zeigt ein Blick in die Nachrichten von pdi_432.006
den Naturvölkern, wie sehr sie irren. Auch kann die Technik pdi_432.007
der einzelnen Dichtungsart nicht aus deren Ziel und Mitteln pdi_432.008
abgeleitet werden. Dies kann Jeder erproben, indem er das pdi_432.009
Verhältniss der Principien des poetischen Eindrucks zu einander pdi_432.010
zu bestimmen sucht, nach ihnen Eindrücke möglichst wirkungsfähiger pdi_432.011
Art ausgewählt und geordnet denkt und unter den Möglichkeiten, pdi_432.012
welche die einzelnen Momente der inneren Form, pdi_432.013
Stimmung, Fabel, Handlung, Charaktere etc., enthalten, eine pdi_432.014
möglichst günstige Auswahl anstrebt. Dann macht sich die Unbestimmtheit pdi_432.015
der Principien, der Mangel einer Abgrenzung ihrer pdi_432.016
Zahl, einer Messbarkeit ihrer Werthabstufung und einer sicheren pdi_432.017
Anordnung derselben nach inneren Beziehungen geltend. Also pdi_432.018
ist eine allgemeingültige Technik der Poesie unmöglich. Dies pdi_432.019
bestätigt sich an den wenigen Techniken der einzelnen Dichtungsarten, pdi_432.020
die wir besitzen. Otto Ludwig hat mit dichterischem pdi_432.021
Tiefsinn, nur vielleicht mit zu gesteigerter ästhetischer Feinhörigkeit pdi_432.022
aus dem innersten Studium Shakespeare's eine allgemeingültige pdi_432.023
Technik des Dramas zu abstrahiren unternommen. Er hat tiefer pdi_432.024
als irgend ein Kenner Shakespeare's vor ihm in dessen technische pdi_432.025
Geheimnisse geblickt. Er hat erwiesen, wie fein, fest pdi_432.026
und folgerichtig die Technik dieses grössten Dramatikers ausgebildet pdi_432.027
war. So kann man sein Buch als einen indirecten sehr pdi_432.028
ingeniösen Nachweis davon ansehen, dass Shakespeare mit technischem pdi_432.029
Bewusstsein die so ausserordentlich vollkommene Form des pdi_432.030
classischen englischen Dramas geschaffen hat. Aber die allgemeingültige pdi_432.031
Technik, welche er für den Gebrauch der Dramatiker pdi_432.032
seiner Tage, zumal für seinen eigenen Gebrauch, gesucht pdi_432.033
hat, fand er nicht. Was er als eine solche hingestellt hat, ist pdi_432.034
nur ein in den Wolken sich verlierendes Idealbild der geschichtlichen pdi_432.035
Technik Shakespeare's, und so musste auch die Liebe zu pdi_432.036
demselben unfruchtbar bleiben. Gustav Freytag hat in seiner

pdi_432.001
einer psychologischen Interpretation dieser Unterschiede pdi_432.002
besteht. Es wäre verfehlt, diese Arten constructiv aus Wesen, pdi_432.003
Ziel und Mitteln der Dichtung abzuleiten, und wenn viele pdi_432.004
Aesthetiker das Drama für eine höhere Einheit von Lyrik und pdi_432.005
Epos erklärt haben, so zeigt ein Blick in die Nachrichten von pdi_432.006
den Naturvölkern, wie sehr sie irren. Auch kann die Technik pdi_432.007
der einzelnen Dichtungsart nicht aus deren Ziel und Mitteln pdi_432.008
abgeleitet werden. Dies kann Jeder erproben, indem er das pdi_432.009
Verhältniss der Principien des poetischen Eindrucks zu einander pdi_432.010
zu bestimmen sucht, nach ihnen Eindrücke möglichst wirkungsfähiger pdi_432.011
Art ausgewählt und geordnet denkt und unter den Möglichkeiten, pdi_432.012
welche die einzelnen Momente der inneren Form, pdi_432.013
Stimmung, Fabel, Handlung, Charaktere etc., enthalten, eine pdi_432.014
möglichst günstige Auswahl anstrebt. Dann macht sich die Unbestimmtheit pdi_432.015
der Principien, der Mangel einer Abgrenzung ihrer pdi_432.016
Zahl, einer Messbarkeit ihrer Werthabstufung und einer sicheren pdi_432.017
Anordnung derselben nach inneren Beziehungen geltend. Also pdi_432.018
ist eine allgemeingültige Technik der Poesie unmöglich. Dies pdi_432.019
bestätigt sich an den wenigen Techniken der einzelnen Dichtungsarten, pdi_432.020
die wir besitzen. Otto Ludwig hat mit dichterischem pdi_432.021
Tiefsinn, nur vielleicht mit zu gesteigerter ästhetischer Feinhörigkeit pdi_432.022
aus dem innersten Studium Shakespeare's eine allgemeingültige pdi_432.023
Technik des Dramas zu abstrahiren unternommen. Er hat tiefer pdi_432.024
als irgend ein Kenner Shakespeare's vor ihm in dessen technische pdi_432.025
Geheimnisse geblickt. Er hat erwiesen, wie fein, fest pdi_432.026
und folgerichtig die Technik dieses grössten Dramatikers ausgebildet pdi_432.027
war. So kann man sein Buch als einen indirecten sehr pdi_432.028
ingeniösen Nachweis davon ansehen, dass Shakespeare mit technischem pdi_432.029
Bewusstsein die so ausserordentlich vollkommene Form des pdi_432.030
classischen englischen Dramas geschaffen hat. Aber die allgemeingültige pdi_432.031
Technik, welche er für den Gebrauch der Dramatiker pdi_432.032
seiner Tage, zumal für seinen eigenen Gebrauch, gesucht pdi_432.033
hat, fand er nicht. Was er als eine solche hingestellt hat, ist pdi_432.034
nur ein in den Wolken sich verlierendes Idealbild der geschichtlichen pdi_432.035
Technik Shakespeare's, und so musste auch die Liebe zu pdi_432.036
demselben unfruchtbar bleiben. Gustav Freytag hat in seiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0134" n="432"/><lb n="pdi_432.001"/>
einer psychologischen Interpretation dieser Unterschiede <lb n="pdi_432.002"/>
besteht. Es wäre verfehlt, diese Arten constructiv aus Wesen, <lb n="pdi_432.003"/>
Ziel und Mitteln der Dichtung abzuleiten, und wenn viele <lb n="pdi_432.004"/>
Aesthetiker das Drama für eine höhere Einheit von Lyrik und <lb n="pdi_432.005"/>
Epos erklärt haben, so zeigt ein Blick in die Nachrichten von <lb n="pdi_432.006"/>
den Naturvölkern, wie sehr sie irren. Auch kann die Technik <lb n="pdi_432.007"/>
der einzelnen Dichtungsart nicht aus deren Ziel und Mitteln <lb n="pdi_432.008"/>
abgeleitet werden. Dies kann Jeder erproben, indem er das <lb n="pdi_432.009"/>
Verhältniss der Principien des poetischen Eindrucks zu einander <lb n="pdi_432.010"/>
zu bestimmen sucht, nach ihnen Eindrücke möglichst wirkungsfähiger <lb n="pdi_432.011"/>
Art ausgewählt und geordnet denkt und unter den Möglichkeiten, <lb n="pdi_432.012"/>
welche die einzelnen Momente der inneren Form, <lb n="pdi_432.013"/>
Stimmung, Fabel, Handlung, Charaktere etc., enthalten, eine <lb n="pdi_432.014"/>
möglichst günstige Auswahl anstrebt. Dann macht sich die Unbestimmtheit <lb n="pdi_432.015"/>
der Principien, der Mangel einer Abgrenzung ihrer <lb n="pdi_432.016"/>
Zahl, einer Messbarkeit ihrer Werthabstufung und einer sicheren <lb n="pdi_432.017"/>
Anordnung derselben nach inneren Beziehungen geltend. Also <lb n="pdi_432.018"/>
ist eine allgemeingültige Technik der Poesie unmöglich. Dies <lb n="pdi_432.019"/>
bestätigt sich an den wenigen Techniken der einzelnen Dichtungsarten, <lb n="pdi_432.020"/>
die wir besitzen. <hi rendition="#g">Otto Ludwig</hi> hat mit dichterischem <lb n="pdi_432.021"/>
Tiefsinn, nur vielleicht mit zu gesteigerter ästhetischer Feinhörigkeit <lb n="pdi_432.022"/>
aus dem innersten Studium Shakespeare's eine allgemeingültige <lb n="pdi_432.023"/>
Technik des Dramas zu abstrahiren unternommen. Er hat tiefer <lb n="pdi_432.024"/>
als irgend ein Kenner Shakespeare's vor ihm in dessen technische <lb n="pdi_432.025"/>
Geheimnisse geblickt. Er hat erwiesen, wie fein, fest <lb n="pdi_432.026"/>
und folgerichtig die Technik dieses grössten Dramatikers ausgebildet <lb n="pdi_432.027"/>
war. So kann man sein Buch als einen indirecten sehr <lb n="pdi_432.028"/>
ingeniösen Nachweis davon ansehen, dass Shakespeare mit technischem <lb n="pdi_432.029"/>
Bewusstsein die so ausserordentlich vollkommene Form des <lb n="pdi_432.030"/>
classischen englischen Dramas geschaffen hat. Aber die allgemeingültige <lb n="pdi_432.031"/>
Technik, welche er für den Gebrauch der Dramatiker <lb n="pdi_432.032"/>
seiner Tage, zumal für seinen eigenen Gebrauch, gesucht <lb n="pdi_432.033"/>
hat, fand er nicht. Was er als eine solche hingestellt hat, ist <lb n="pdi_432.034"/>
nur ein in den Wolken sich verlierendes Idealbild der geschichtlichen <lb n="pdi_432.035"/>
Technik Shakespeare's, und so musste auch die Liebe zu <lb n="pdi_432.036"/>
demselben unfruchtbar bleiben. <hi rendition="#g">Gustav Freytag</hi> hat in seiner
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[432/0134] pdi_432.001 einer psychologischen Interpretation dieser Unterschiede pdi_432.002 besteht. Es wäre verfehlt, diese Arten constructiv aus Wesen, pdi_432.003 Ziel und Mitteln der Dichtung abzuleiten, und wenn viele pdi_432.004 Aesthetiker das Drama für eine höhere Einheit von Lyrik und pdi_432.005 Epos erklärt haben, so zeigt ein Blick in die Nachrichten von pdi_432.006 den Naturvölkern, wie sehr sie irren. Auch kann die Technik pdi_432.007 der einzelnen Dichtungsart nicht aus deren Ziel und Mitteln pdi_432.008 abgeleitet werden. Dies kann Jeder erproben, indem er das pdi_432.009 Verhältniss der Principien des poetischen Eindrucks zu einander pdi_432.010 zu bestimmen sucht, nach ihnen Eindrücke möglichst wirkungsfähiger pdi_432.011 Art ausgewählt und geordnet denkt und unter den Möglichkeiten, pdi_432.012 welche die einzelnen Momente der inneren Form, pdi_432.013 Stimmung, Fabel, Handlung, Charaktere etc., enthalten, eine pdi_432.014 möglichst günstige Auswahl anstrebt. Dann macht sich die Unbestimmtheit pdi_432.015 der Principien, der Mangel einer Abgrenzung ihrer pdi_432.016 Zahl, einer Messbarkeit ihrer Werthabstufung und einer sicheren pdi_432.017 Anordnung derselben nach inneren Beziehungen geltend. Also pdi_432.018 ist eine allgemeingültige Technik der Poesie unmöglich. Dies pdi_432.019 bestätigt sich an den wenigen Techniken der einzelnen Dichtungsarten, pdi_432.020 die wir besitzen. Otto Ludwig hat mit dichterischem pdi_432.021 Tiefsinn, nur vielleicht mit zu gesteigerter ästhetischer Feinhörigkeit pdi_432.022 aus dem innersten Studium Shakespeare's eine allgemeingültige pdi_432.023 Technik des Dramas zu abstrahiren unternommen. Er hat tiefer pdi_432.024 als irgend ein Kenner Shakespeare's vor ihm in dessen technische pdi_432.025 Geheimnisse geblickt. Er hat erwiesen, wie fein, fest pdi_432.026 und folgerichtig die Technik dieses grössten Dramatikers ausgebildet pdi_432.027 war. So kann man sein Buch als einen indirecten sehr pdi_432.028 ingeniösen Nachweis davon ansehen, dass Shakespeare mit technischem pdi_432.029 Bewusstsein die so ausserordentlich vollkommene Form des pdi_432.030 classischen englischen Dramas geschaffen hat. Aber die allgemeingültige pdi_432.031 Technik, welche er für den Gebrauch der Dramatiker pdi_432.032 seiner Tage, zumal für seinen eigenen Gebrauch, gesucht pdi_432.033 hat, fand er nicht. Was er als eine solche hingestellt hat, ist pdi_432.034 nur ein in den Wolken sich verlierendes Idealbild der geschichtlichen pdi_432.035 Technik Shakespeare's, und so musste auch die Liebe zu pdi_432.036 demselben unfruchtbar bleiben. Gustav Freytag hat in seiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/134
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/134>, abgerufen am 17.05.2024.