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Diefenbach, Johann: Reformation oder Revolution. Mainz, 1897.

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Veranlassung geboten, sich der Segnungen der Reformation
zu freuen. Mit der fortschreitenden Zeit konnten sich auch
die Früchte der neuen Lehre gezeitigt haben. Allein gerade
mit dem Anfange dieses Jahrhunderts nehmen die Klagen
und der Jammer über das große Sittenverderbnis nur noch
zu und tönen von allen Kanzeln über das Jubelfest hinaus.
Aus besonderer Verehrung für Herrn Ober-Konsistorialrat
Dr. Goldmann in Darmstadt lassen wir einige Stimmen
hören, die seinem engeren Heimatland angehören.

Der Prediger Cornapäus klagt 1614:

"Man übet Schinderei und überfordert die lieben Armen mit Allem,
was man zur Leibesnotdurft nöthig hat. Unzucht, Fluchen, Schwören,
Gotteslästerung, Wucher, Diebstahl, Haß, Neid, Lügen, Verläumdung
und allerlei Betrügerei werden ohne Scheu getrieben. Allerlei Schand-
laster steigern und mehren sich täglich, darum wächst und wird auch
täglich größer die Strafe."

Der Gießener Prediger C. Chemlinus bekennt 1611:

"Haß, Unzucht, schamlose Worte und Werke, Ehrgeiz, Überfordern,
Schinden und Schaben, falches Schwören und andere Laster mehr gehen
jetzt unter uns Evangelischen allgemein im Schwunge und
will doch ein jeder ein guter Christ sein."

Prediger Braun aus Oberhessen läßt 1603 die
"frommen Christen" ein kleines Häuflein sein, die noch zur
Kirche gehen:

"Die meisten laufen im Felde herum; etliche stehen vor dem Rath-
haus, etliche im Saufhaus, etliche im H .... haus; etliche bleiben
im Bette liegen und wenden dem Teufel einen Braten im Bette
herum."

Mit prophetischem Blicke ruft er aus:

"Deutschland, Deutschland! Wie wird deswegen ein großes
Unglück über dich kommen; die Ruthe Gottes ist gebunden und das
Schwert gewetzt; Gott erbarme sich unser und unserer Kinder!"

Jm Tone eines Jeremias klagt der Ulmische Prediger
C. Dietrich:

Veranlaſſung geboten, ſich der Segnungen der Reformation
zu freuen. Mit der fortſchreitenden Zeit konnten ſich auch
die Früchte der neuen Lehre gezeitigt haben. Allein gerade
mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts nehmen die Klagen
und der Jammer über das große Sittenverderbnis nur noch
zu und tönen von allen Kanzeln über das Jubelfeſt hinaus.
Aus beſonderer Verehrung für Herrn Ober-Konſiſtorialrat
Dr. Goldmann in Darmſtadt laſſen wir einige Stimmen
hören, die ſeinem engeren Heimatland angehören.

Der Prediger Cornapäus klagt 1614:

„Man übet Schinderei und überfordert die lieben Armen mit Allem,
was man zur Leibesnotdurft nöthig hat. Unzucht, Fluchen, Schwören,
Gottesläſterung, Wucher, Diebſtahl, Haß, Neid, Lügen, Verläumdung
und allerlei Betrügerei werden ohne Scheu getrieben. Allerlei Schand-
laſter ſteigern und mehren ſich täglich, darum wächſt und wird auch
täglich größer die Strafe.‟

Der Gießener Prediger C. Chemlinus bekennt 1611:

„Haß, Unzucht, ſchamloſe Worte und Werke, Ehrgeiz, Überfordern,
Schinden und Schaben, falches Schwören und andere Laſter mehr gehen
jetzt unter uns Evangeliſchen allgemein im Schwunge und
will doch ein jeder ein guter Chriſt ſein.‟

Prediger Braun aus Oberheſſen läßt 1603 die
„frommen Chriſten‟ ein kleines Häuflein ſein, die noch zur
Kirche gehen:

„Die meiſten laufen im Felde herum; etliche ſtehen vor dem Rath-
haus, etliche im Saufhaus, etliche im H .... haus; etliche bleiben
im Bette liegen und wenden dem Teufel einen Braten im Bette
herum.‟

Mit prophetiſchem Blicke ruft er aus:

„Deutſchland, Deutſchland! Wie wird deswegen ein großes
Unglück über dich kommen; die Ruthe Gottes iſt gebunden und das
Schwert gewetzt; Gott erbarme ſich unſer und unſerer Kinder!‟

Jm Tone eines Jeremias klagt der Ulmiſche Prediger
C. Dietrich:

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[52/0064] Veranlaſſung geboten, ſich der Segnungen der Reformation zu freuen. Mit der fortſchreitenden Zeit konnten ſich auch die Früchte der neuen Lehre gezeitigt haben. Allein gerade mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts nehmen die Klagen und der Jammer über das große Sittenverderbnis nur noch zu und tönen von allen Kanzeln über das Jubelfeſt hinaus. Aus beſonderer Verehrung für Herrn Ober-Konſiſtorialrat Dr. Goldmann in Darmſtadt laſſen wir einige Stimmen hören, die ſeinem engeren Heimatland angehören. Der Prediger Cornapäus klagt 1614: „Man übet Schinderei und überfordert die lieben Armen mit Allem, was man zur Leibesnotdurft nöthig hat. Unzucht, Fluchen, Schwören, Gottesläſterung, Wucher, Diebſtahl, Haß, Neid, Lügen, Verläumdung und allerlei Betrügerei werden ohne Scheu getrieben. Allerlei Schand- laſter ſteigern und mehren ſich täglich, darum wächſt und wird auch täglich größer die Strafe.‟ Der Gießener Prediger C. Chemlinus bekennt 1611: „Haß, Unzucht, ſchamloſe Worte und Werke, Ehrgeiz, Überfordern, Schinden und Schaben, falches Schwören und andere Laſter mehr gehen jetzt unter uns Evangeliſchen allgemein im Schwunge und will doch ein jeder ein guter Chriſt ſein.‟ Prediger Braun aus Oberheſſen läßt 1603 die „frommen Chriſten‟ ein kleines Häuflein ſein, die noch zur Kirche gehen: „Die meiſten laufen im Felde herum; etliche ſtehen vor dem Rath- haus, etliche im Saufhaus, etliche im H .... haus; etliche bleiben im Bette liegen und wenden dem Teufel einen Braten im Bette herum.‟ Mit prophetiſchem Blicke ruft er aus: „Deutſchland, Deutſchland! Wie wird deswegen ein großes Unglück über dich kommen; die Ruthe Gottes iſt gebunden und das Schwert gewetzt; Gott erbarme ſich unſer und unſerer Kinder!‟ Jm Tone eines Jeremias klagt der Ulmiſche Prediger C. Dietrich:

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Zitationshilfe: Diefenbach, Johann: Reformation oder Revolution. Mainz, 1897, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diefenbach_reformation_1897/64>, abgerufen am 05.05.2024.